Uli Bohnen
Möglicherweise durchs Hirn unter die Haut
„Deutsches Haus Würzburg“ von Mischa Kuball
Stellen Sie sich vor, Sie hören kräftige Schläge von nebenan, der Putz bröckelt, das Bild über dem Sofa vibriert und fällt schließlich von der Wand. Noch während Sie, ratlos und hilfesuchend, den Telefonhörer in der Hand halten, lächelt Ihnen das Gesicht Ihres Nachbarn durch ein Loch im Wohnzimmer entgegen. Fiction?
Wie berichtet wird, soll es im Mai 1968 tatsächlich vorgekommen sein, daß bis dato brave, unauffällige Familienväter und Arbeitnehmer gemeinsam mit ihren Angehörigen (oder ohne sie) die trennenden Wände zwischen ihren Wohnungen und denen ihrer Nachbarn einrissen und sich, in einer revoltebedingten Synthese aus Klarsicht und Verwirrung, entschlossen, fortan zusammenzuleben. Ort der Handlung: irgendwo in den Satellitenstädten, die Paris umgeben. Es ging nicht auf Dauer gut. Heute ist nicht mehr wichtig, ob Gefängnis oder Irrenhaus das Ende solcher Wege markierten oder ob die Akteure zu den Ungezählten gehörten, die später einfach verschwunden waren. Vielleicht bauten sie ja sogar selbst die Wände wieder auf, als alles vorbei war und nur noch ein unscheinbarer Knoten im Taschentuch der Geschichte übrigblieb. Eine dünne, aber nicht sehr durchsichtige Schicht wuchs darüber zusammen; man pflegt sie als „historische Kontinuität“ zu bezeichnen.
Selbst in nicht-revolutionären Zeiten vermag Kunst durch hartes Auftreten Risse in dieser dünnen Schicht zu verursachen oder mit subtilen Mitteln zuweilen alles schlagartig transparent werden zu lassen – auch ohne revolutionäre Absicht.
Als Steigerung der Tatsache, daß man türknallend das Haus verlassen oder sich – wie
weiland Karl Korsch1 – demonstrativ entkleiden kann, so kann man auch aus der Haut fahren. Gründe, sich beengt zu fühlen, gibt es allemal genug.
Bei Betrachtung des Ensembles „Deutsches Haus Würzburg“ von Mischa Kuball, das sich in die Teile „Mediendrama“ von 1987, „Deutscher Pavillon“ von 1988 und „Sozialer Wohnungsbau“ von 1989 gliedert, wird spürbar, daß es sich um ein Panorama von äußerlich zwar durchaus verschieden gestalteten, strukturell jedoch ähnlich gelagerten Themenkomplexen handelt, die da aspekthaft vergegenwärtigt sind. In zwei Fällen bilden architektonische Manifestationen den Ausgangspunkt, in einem Fall deren innere Komplettierung durchs Fernsehen: „Mediendrama“ besteht in einer Anzahl geometrischer Projektionen aufs laufende TV-Regionalprogramm.
Kuballs Arbeiten sind spröde und zeugen vom explorativen Mut des Künstlers, sich auf die
Scheußlichkeiten und Banalitäten des sogenannten Normalen einzulassen, ohne sogleich die denkbaren Konsequenzen mitzuliefern, die, als Widerspruch und Widerstand, aus dem verfremdet Wahrnehmbaren gezogen werden können.
Wie sähen derartige Konsequenzen aus?
Am Beispiel der Arbeit „Deutscher Pavillon“, die – ausgehend von Albert Speer‘s Prachtbau auf der Pariser Weltausstellung 1937 – eine breit gefächerte Folge von Gebäuden verschiedenster Provenienz in partiell verzerrten Diaprojektionen vorführte, wurde bereits an anderer Stelle gezeigt, daß der totalitär-repressive Charakter von Wohnhäusern und Siedlungen, Fabriken und Verwaltungszentren, Sportstätten und Repräsentationsobjekten weniger in der Abhängigkeit von politisch autoritären Regimen (gar noch ausschließlich in deren faschistischer bzw. nationalsozialistischer Erscheinungsform) zu suchen ist als vielmehr in einem prinzipiellen, sozial und historisch verkanteten Verhältnis von Gesellschaft und Zivilisation sowie den zugehörigen industriellen Organisationsmustern2.
Auch der Betrachter des Arrangements „Sozialer Wohnungsbau“ sieht sich mit wechselnden
Projektionen konfrontiert. Im Unterschied zum „Deutschen Pavillon“ geht es diesmal jedoch näher an die eigene Haut: sowohl die vorgeführten Architekturbeispiele als auch die ganze äußere Erscheinungsform des Objekts thematisieren die Fünfziger- bis Siebziger Jahre; außerdem fällt die lebensabweisende Distanz weg, die man beim Anblick von Repräsentations- und Verwaltungskomplexen empfindet. Indessen dürften die spezifische Form persönlicher Betroffenheit und die ins Objekt eingearbeiteten Verfremdungsmechanismen gewährleisten, daß von allzu vertrauten und wehmütigen Gefühlen keine Rede sein kann. Eher könnte man von einer unangenehmen Nähe sprechen – dies um so mehr, als mit dem im gleichen Raum installierten „Mediendrama“ ein Analogon auftritt, das die Architektur als beengende Hülle mit dem, was sich drinnen als „Familienleben“ abspielt, in eine reflexionswürdige Wechselbeziehung setzt. Denn so, wie die Architekturprojektionen verfremdet sind, so ist auch das „Mediendrama“, wie der Titel mit leicht ironischem Unterton bereits andeutet, etwas anderes als nur eine Bildstörung. Ebenso böse wie zutreffend ausgedrückt, handelt es sich um eine beispielhaft inszenierte Unterbrechung der Kommunikationslosigkeit, die im Normalfall das relativ gewaltarme räumliche Beisammensein von Leuten garantiert, die, als Familie aneinander gebunden, dem sozialen Wohnungsbau eingepaßt sind.
Argumentationen, die entweder, auf der Annahme individueller menschlicher Bedürfnisse basierend, den sozialen Wohnungsbau als aufoktroyierten Versuch strukturell-gewaltsamer Gleichmacherei kritisieren3 oder umgekehrt, appellierend an die Einsicht in die Möglichkeit eines von sozialer Versöhnung geprägten, rationalen Zukunftsstaates, den sozialen Wohnungsbau verteidigen4, bewegen sich in dem undurchschauten Paradox von Patriarchat und Familie sowie den damit einhergehenden, tief in die Bedürfnisstrukturen eingewachsenen sozialen und mentalen Symptomen. Beide Argumentationen liegen nur insoweit richtig, als sie an den unmittelbaren Bedürfnissen derjenigen, mit denen man „es gut meint“, gleichermaßen vorbeigehen.
So, wie die Gründung von Kleinfamilien das institutionalisierte Ende jedes denkbaren sozialen Verhaltens bedeutet, an dessen Stelle die Bewachung des Eigentums (incl. Ehepartner), die Brutpflege und das Erbrecht treten, so bildet der soziale Wohnungsbau den konfektionierten architektonischen Rahmen zu jener Reduktion auf ein vorgestanztes lnteraktionsfeld weniger Körper – mit Fernsehgerät.
Anders gesagt: Werden sozialen Wohnungsbau fundamental kritisieren und nicht nur Kosmetik betreiben will, beginne mit der systematischen Zerstörung dessen, was der Dadaist Raoul Hausmann 1922 als „Familiensimpelei“ bezeichnete5. Aber man mache sich keine Illusionen über das Maß an Feindseligkeit, das eben jene Familien entwickeln, wenn sie sich ohne anderweitige Glücksaussicht in Frage gestellt sehen!
Es mag zwar, wie Adorno bemerkte, kein richtiges Leben im falschen geben, aber ist nicht gerade darum die zynische Einsicht tröstlich, daß Großfamilien (etwa Landbewohner), Singles und wohlhabende Leute von der Problematik des sozialen Wohnungsbaus weitgehend unbehelligt bleiben?
Allerdings sind damit nicht notwendig die sozialen Grenzen des Verständnisses, kommender
Einsichten und möglicher praktischer Handlungen abgesteckt. Wenn nämlich wieder einmal
Wände eingerissen werden, dann könnten künstlerische Interventionen wie Kuballs „Deutsches Haus Würzburg“ dazu beigetragen haben, daß man sich des unscheinbaren Knotens im Taschentuch der Geschichte erinnert. (Gute Kunst scheut nicht vor Staatsgefährdung zurück!)
Jenseits der unumgänglichen Destruktionen mag man dann erneut über die Dialektik der Normierung, über Wahres und Falsches im Bedürfnis nach Komfort sowie über das Verhältnis des Persönlichen zum Gesellschaftlichen nachdenken. Dies nämlich sind die Probleme, welche die gesamte Moderne durchzogen haben bzw. durchziehen. Es ist kaum vorherzusagen, welche Formen von Normierung frei produzierende und kommunizierende Gemeinschaften in einer anderen, sicher nicht patriarchalisch geprägten Beziehung zu Natur entwickeln. Denkbar ist, daß Utilitarismus und Metaphysik, einer der ungelösten Antagonismen der Moderne, in einer Synthese aufgehen, die weder nach Sozialdemokratismus noch nach Mystifizierung riecht. Vielleicht tritt dann auch die Wahrheit des Anspruchs zutage, den der Begriff „sozialer Wohnungsbau“ sprachlich unauffällig transportiert.
Anmerkungen:
1 Karl Korsch (1886-1961), dessen Schriften noch heute zum Scharfsinnigsten zählen, was der Marxismus hervorgebracht hat, demonstrierte 1950 seine Entäuschung und Wut über die Limitationen dessen, was sich als „realer Sozialismus“ geltend machte, aber auch über seine eigene Iebenslange Befangenheit im zugehörigen theoretischen Umfeld, indem er nackt durch den Züricher Hauptbahnhof lief. Vgl. Karl Korsch, Marxismus und Philosophie (1923),
Frankfurt/M. 1972; ferner: Jörg Asseyer, Dem Marxismus eine Gasse? In: Hiebe unter die Haut, Berlin 1975, bes. S. 16/17.
2 Exploration 1 (Publikation der Galerie Hafemann über Mischa Kuball), Wiesbaden 1989
3 So beispielsweise: Heide Berndt/Alfred Lorenzer/Klaus Horn, Architektur als Ideologie, Frankfurt/M. 1968.
4 Diese Argumentation zieht sich als (von der gleichnamigen politischen Partei unabhängiges) sozialdemokratisches Element durch die gesamte Moderne.
5 Raoul Hausmann u.a., Manifest der Kommune (1922). In: Helga Kliemann, Die Novembergruppe, Berlin 1969, S. 66.
In: Deutsches Haus Städtische Galerie, Würzburg, 1989