Über die Schwelle
Im symbolischen Raum ist die Schwelle eine
bedeutungsvolle Grenze, die zwei Sphären voneinander
trennt. Konkret betrachtet ist sie ein
architektonisches Element: Ursprünglich ein »tragender
Balken« der Hauskonstruktion, dann – als
Türschwelle – ein »Brett zwischen den Rahmenhölzern
eines Türrahmens, das der Abdeckung
von Stoßfugen und als unterer Anschlag des
Türblatts zur Vermeidung von Zugluft dient.«1
Die architektonische Schwelle trennt innen und
außen und ist doch ein Ort, der beide Bereiche
verbindet. Dort, wo die Wand sich öffnet und
durchlässig wird, markiert sie eine Grenze. Die
reale, materiale Barriere zwischen innen und
außen ist über der Schwelle aufgehoben. An die
Stelle der physischen Barriere tritt die symbolische
Aufladung der Schwelle im Sinne einer
imaginären Grenze. In seiner psychophysikalischen
Bedeutung bezeichnet »Schwelle« »ein
Übergangsstadium vom unmerklichen zum eben
noch bemerkbaren Zustand.«2 In diesem Sinne
kann auch der Übergang von der Straße ins Haus
verstanden werden. Was zuvor dem Blick der Öffentlichkeit
preisgeben war, wird jenseits der
Schwelle im Innern des Hauses öffentlich unsichtbar.
Im Innenraum, geschützt vor den Blicken der
Anderen, vollzieht sich das Private.
Die Architektur des Innenraums steht für das Private
und bestimmt dessen Vorstellung. Darüber
hinaus liefert sie ein Modell, das sich ins Anthropologische
erweitern lässt: Was im Innern vor sich
geht, das Innenleben – Gedanken und Emotionen
– ist durch die »Hülle« des Körpers verborgen.
Das Innere und Verborgene ist gewissermaßen
das Eigenste. Das Private in seiner reinsten Form
ist geschützter Innenraum. Dabei erfährt die Privatheit
der Räume innerhalb eines Hauses nochmals
eine Abstufung. Je unverhüllter sich der
Körper zeigt, je mehr Innenwelt nach außen tritt,
desto privater und abgeschirmter werden die
Räume. Die Toilette ist so betrachtet der privateste
Ort.
Der Architektur des privaten Innenraums steht
der öffentliche Außenraum gegenüber, die Architektur
der Straßen und Plätze. Unter dem Begriff
»öffentlicher Raum« wird der für jedermann frei
zugängliche, meist städtische Außenraum, insbesondere
im Feld der Kunst, zum vielfach beschworenen
Modell für Öffentlichkeit. Der öffentliche
Raum, bei dem es sich um nur eine spezifische
Ausprägung von Öffentlichkeit handelt,
ist – im Gegensatz zum medialen und virtuellen
Raum – der Raum der leibhaftig anwesenden
Körper. Sie verwandeln sich unter den Blicken
der anderen in bewegte Zeichen, die über die
soziale Stellung und die Befindlichkeit der im
öffentlichen Raum agierenden Auskunft geben.
Mit dem Innenraum des Hauses im Rücken sieht
der aus dem Fenster Blickende die Vorübergehenden
wie in einem Schauspiel. Wer aus dem
Haus tritt, wird, ob er will oder nicht, zum Akteur
auf der öffentlichen Bühne der Straßen und
Plätze. Das heißt, die Schwelle, die Haus und
Straße trennt, fungiert nicht nur als Grenze, sondern
auch als Rampe, die, wenn sie überschritten
wird, private Personen zu öffentlichen Akteuren
werden lässt.
Der Gegensatz von innen und außen findet sein
Äquivalent im Gegensatz von öffentlich und privat,
was allerdings nicht bedeutet, dass die beiden
Gegensatzpaare vollständig zur Deckung
gebracht werden können. Es gibt Häuser, wie
etwa Parlamente, Gerichte und Museen, in denen
öffentliche Belange verhandelt werden und deren
Inneres durchaus für die Öffentlichkeit bestimmt
ist. Insofern ist der Gegensatz zwischen Kunst
im öffentlichen Raum und Kunst im Museum,
zumindest was ihren »öffentlichen Kern« anbelangt,
ein Scheingegensatz, auch wenn soziale
Barrieren die Öffentlichkeit daran hindern, die
für sie bestimmten Räume wahrzunehmen und
sich musealer und öffentlicher Raum durchaus
unterscheiden. So hat der museale Raum den
primären Zweck Museum zu sein, während der
Stadtraum weitgehend von Diversität und Kontingenz
geprägt wird. Um sozialen Ausschlussverfahren
entgegenzuwirken, engagierte sich
die in den 60er /70er Jahren vehement geführte
Debatte zur Herstellung einer demokratische
Öffentlichkeit für den Abbau der »Schwellenangst
«. Mehr noch: Sie stellte den öffentliche
Raum in einer fundamentalen Kritik gegen die
idealisierende Abschottung des Museums.
Der Museumsboom in den 80er Jahren setzte sich
über derartige Bedenken hinweg. Nicht zuletzt
wird heute von Seiten der Kunst die im Museum
mögliche, konzentrierte Aufmerksamkeit wieder
zunehmend geschätzt. Die Frage nach dem Verhältnis
von Macht und demokratischer Teilhabe,
von Öffentlichkeit und Privatheit ist allerdings bis
heute virulent geblieben. Die entfesselte Privatwirtschaft
okkupiert im Zuge der Totalökonomisierung
die öffentlichen Räume. Noch nie war die
Privatsphäre durch neue Überwachungstechnologien
so sehr bedroht wie heute. Gleichzeitig
exponiert sich das Private öffentlich, man denke
an Webcams oder »Reality-TV«, wo »Big Brother«
– bei Orwell noch das Schreckgespenst der totalen
Kontrolle – zum Dauerentertainment geworden
ist.
Das Private ist Teil des Gesellschaftlichen. Es bedarf
der Konstruktion. Wenn es sich auf die
Sphäre der Innenräume zurückzieht, heißt dies:
Es bedarf der Einrichtung.
IKEA, Ausgangsschleuse – eine Zwischenbeobachtung
Auf Einkaufswagen werden gerade noch handhabbare
Kartons mit Möbelteilen und unverpackte
Einrichtungs-Accessoires durch die Glasschleuse
geschoben, gewuchtet, balanciert. Nachdem die
Wagenschieber die Geld-gegen-Ware-Schwelle
an der Kasse überwunden haben, überschreiten
sie nun die architektonische Schwelle und treten
ins Freie: Die automatischen Türen schließen
sich, die Verfügungsgewalt über das Gekaufte
ist jetzt endgültig besiegelt. Die Wagenschieber
bewegen sich über den Parkplatz zum Auto. Die
Fahrt durch den öffentlichen Raum wird zu Rites
de Passage, bei der die Einrichtungsgegenstände,
die zuvor noch öffentlich zum Verkauf angeboten
wurden, ins Private transformiert werden. Sobald
die Möbel, Lampen und Blumentöpfe in der Wohnung
platziert sein werden, sind sie nicht nur
Privateigentum im Privatraum, sondern Material,
mit dem das Private geformt wird: Das Design
der erworbenen Gegenstände dient dem Design
des Privaten.
Zurück zur Ausgangsschleuse: In den Gesichtern
der Wagenschieber zeichnet sich eine gewisse
Erschöpfung ab, aber auch eine Art geheimer Triumph,
eine durch die IKEA-Preispolitik und die
erbrachte Einkaufsleistung bedingte, selbstgerechte
Genugtuung. Der Gesichtsausdruck ist nun
fast schon entspannt. Im Innern des Verkaufslabyrinths
schwankte er leicht fiebrig zwischen
Kalkulation, Begierde und aneignender Imagination.
Sie richtet sich auf die als öffentliche Dispositive
des Privaten ausgestellten Einrichtungsgegenstände
und die mit ihrer Hilfe simulierten
Wohnlandschaften. Die geweckte Begierde und
die Erfüllung der Begierde durch den Kauf zielen
auf das Private und machen einen privaten
Akt öffentlich. Der Kauf ist öffentliche Wunschbefriedigung
qua Imagination, die sich an der
Ware entzündet. Slavoj Zizek bringt den Sachverhalt
kernig auf den Punkt: »For me, shopping
is like masturbating public.«3 Wobei sich Durchschnittskäufer
und Masturbierender wenig darum
scheren, wie viele es ihnen gleichtun, und
sich am gleichen Objekt der Begierde befriedigen.
In diesem Sinne existieren die erworbenen
Einrichtungsgegenstände, die zur Konstruktion
des Privaten dienen, besonders markant
bei IKEA in unendlicher Reproduktion – der Beistelltisch
etwa wird jährlich in 43 Ländern zwei
Millionen mal verkauft. Das Private, an dessen
Konstruktion er mitwirkt, ist offensichtlich keineswegs
nur das Eigene, sondern es ist auch – jenseits
der Verfügungsgewalt zwar – auch das
Private der anderen. Das Private ist somit ein
verstecktes »Öffentliches«, »Gesellschaftliches«,
»Allgemeines«.
Das öffentliche Licht
Mit »Public Blend« vollzieht Mischa Kuball eine
fundamentale Grenzüberschreitung. Er platziert
Lampen, die der Beleuchtung privater Innenräume
dienen, als Straßenbeleuchtung im öffentlichen
Raum. Konkreter: Er bittet Bewohner aus
der Nachbarschaft des kunstraum muenchen,
jeweils eine Lampe aus ihrer Wohnung zur Verfügung
zu stellen, um die Straße vor ihrem Fenster
zu beleuchten. Kuballs partizipatorische Vorgehensweise
macht die Bewohner zu Ko-Autoren,
aber auch zum Thema einer soziogrammatischen
Stadtteilintervention, die den öffentlichen Raum
– wörtlich und metaphorisch – in neuem Licht erscheinen
lässt. Ein kommunikativer (Neben)Effekt
der Arbeit besteht darin, dass die Bewohner des
Stadtteils zu Teilnehmern eines gemeinsamen
»Spieles« werden, ein anderer Effekt besteht in
der Fokussierung der nachbarschaftlichen Aufmerksamkeit
auf den kunstraum muenchen als
Veranstalter der Intervention.
Ein halbes Jahr bevor »Public Blend« im Schwabinger
Straßenraum statt findet, zeigt der kunstraum
muenchen die Dokumentation von »Private
Light/ Public Light«4, einer vom Ansatz her ähnlichen
Arbeit, die Mischa Kuball 1998 für die
Biennale von São Paulo realisiert hatte. »Private
Light/ Public Light« basiert auf dem Prinzip des
Tausches und der Schwellenüberschreitung:
Kuball ersetzte vor Ort Lampen aus Wohnungen
der unterschiedlichsten sozialen Schichten durch
einen von ihm entworfenen Beleuchtungszylinder.
Den Lampentausch dokumentierte er mit
Fotos, die die Wohnungen samt Bewohner vor
und nach der Lampenauswechslung zeigen. Die
eingetauschten Wohnungslampen präsentierte
er in den Räumen der São-Paulo-Biennale. Mit der
Überführung der privaten Lampen in eine Ausstellung
wird eine Art Inversionsprozess in Gang
gesetzt, eine Wiederherstellung des öffentlichen
Ausstellungszustandes, der zumindest einem Teil
der Lampen schon einmal eignete, als sie noch in
Einrichtungshäusern zum Verkauf angeboten
wurden. Dabei findet allerdings eine entscheidende
Kontextverschiebung von der Einrichtungs- zur
Kunstausstellung statt. So sehr die Lampenpräsentation
auf der Biennale der im Kaufhaus
ähnelt – sieht man von den Glühbirnen in einfachsten
Fassungen ab –, bewirken Kunstkontext
und künstlerische Strategie, dass auch der Inversionsprozess
und seine fotografisch dokumentierte
Geschichte mit ausgestellt werden. Der
Zizeksche Shopping-Masturbateur verwandelt
sich zum Soziokunst-Voyeur.
Mischa Kuball konzentriert sein Interesse hier,
wie in anderen Arbeiten, auf die Schwelle, die
das Private und das Öffentliche trennt und verbindet.
Erkundung der Schwelle bedeutet hier:
Überschreitung. Das Verfahren der Schwellenüberschreitung
weist zurück insbesondere in
die Kunst der 60er und 70er Jahre. Man denke an
Vito Acconci, wenn er etwa im öffentlichen Raum
private Geheimnisse preisgibt, wenn er Passanten
verfolgt oder eine Privatgalerie durch einen
sprungbrettartig durch das Fenster ragenden
Tisch mit dem öffentlichen Raum verbindet.5Man
denke an Michael Asher, wenn er die Schwelle in
umgekehrter Richtung überschreitet und das in
Chicago vor dem Museum aufgestellte George-
Washington-Monument für einige Zeit im Innenraum
des Museums ausstellt.6 Auch das Verfahren
der partizipatorischen Einbindung durch die
Ausstellung privater Gegenstände hat Tradition.
Es reicht von den nachbarschaftlichen Aktivitäten
der Group Material über Clegg & Guttmanns
»The Open Public Library«7 – die stadtteilspezifische
Büchersammlung liefert hier ähnlich wie
»Public Blend« Aussagen über das »Profil« eines
Stadtteils – über Maria Eichhorns »Arbeit / Freizeit
« – Gegenstände illustrieren das Verhältnis
von Angestellten zur Freizeit – bis hin zu Haim
Steinbachs »North East South West«, wo Alltagsgegenstände
und damit verbundene private Geschichten
veröffentlicht werden, im Sinne von
Haim Steinbachs Feststellung: »Jede Zusammenstellung
von Gegenständen ist eine Art Ausstellung,
ein Porträt, eine Aussage über die eigene
Identität.«8
Die Thematisierung und Überschreitung der
Schwelle, die Privates und Öffentliches, Innen- und
Außenräume trennt, der partizipatorische Ansatz
und der Umgang mit Alltagsgegenständen
verbindet Kuballs »Public Blend« und »Private
Light/Public Light« mit künstlerischen Strategien
und Verfahren der Kunst, wie sie sich seit den 70er
Jahren herauskristallisiert haben. Das Spezifische
der beiden Projekte, wie überhaupt der Arbeit
Kuballs, ist der Umgang mit Licht. Über den Einsatz
von Licht verknüpft sich bei Kuball auch die
Frage nach der Konstitution des öffentlichen
Raumes und den Möglichkeiten seiner demokratischen
und identitätspolitischen Besetzung.
Lampen erzeugen Licht. Das bedeutet allerdings
nicht, dass der Besitzer einer Lampe auch als Besitzer
des von ihr produzierten Lichts betrachtet
wird. Licht lässt sich darin durchaus mit Luft vergleichen.
Auch Luft wird (noch) nicht dem Privatbesitz
zugerechnet. Wer etwa ein Haus erwirbt,
wird dadurch nicht zum Besitzer der Luft, die von
seinem Haus umschlossen wird. Durchaus vergleichbar
kann auch das Verhältnis von Lampe
und Licht betrachtet werden. Licht, auch wenn
es künstlich produziert wird, entzieht sich den
gegenwärtigen Besitzverhältnissen. Bringt man
die Unterscheidung von öffentlich und privat ins
Spiel, dann ist die Lampe der Seite des Privaten
und das Licht der Seite des Öffentlichen zuzurechnen.
Die symbolische Bedeutung von Licht in
der philosophischen Tradition verstärkt diese
Behauptung. In Platons Philosophie ist das Licht
der bedingende und allgemeinste Grund der Erkenntnis.
In der Philosophie der Moderne steht
das Licht schlechthin als Metapher für Aufklärung.
Aufklärung wiederum steht nicht nur im Dienst
der Wahrheit, sondern auch im Dienst des öffentlichen
Interesses. Wie setzt Kuball Licht ein?
Welche Rolle spielen dabei die Lampen?
Der Umgang mit Licht verbindet sich bei Kuball
immer wieder mit der Frage nach der Konstitution
des öffentlichen Raumes. Für sein 1990 in Düsseldorf
entstandenes Projekt »Megazeichen«9 verwendet
er Licht, um die Bedeutung des Mannesmann-
Hochhauses für den öffentlichen Raum umzucodieren.
Das Licht der Lampen, die gewöhnlich
der Beleuchtung der Arbeitsplätze dienen und
die bei Nacht die Fenster von innen beleuchten
und damit das Gebäude illuminieren, verwendet
er als Pixel für abstrakte Lichtzeichen, die sich in
die nächtliche Stadtsilhouette einschreiben.
Grundsätzlich kann bei der Verwendung von Licht
die Aufmerksamkeit auf die Lichtquelle oder auf
das vom Licht Beleuchtete gerichtet werden. Der
Blick in die Lichtquelle setzt das Auge der möglichen
Blendung aus. In der erwähnten platonischen
Tradition bedeutet er Einblick in die
»höhere Wahrheit«. Der Blick auf das vom Licht
Beleuchtete – das klassische Modell: die Lampe
beim Verhör – bringt Verborgenes ans Licht. In
seinem Projekt »refraction house« für die Synagoge
in Stommeln10 bedient sich Kuball beider
Blickrichtungen. Im Innern der Synagoge, am Ort
der »höheren, religiösen Wahrheit« und am Ort,
der an die Verbrechen des Dritten Reiches erinnert,
installiert er starke Scheinwerfer. Tag und
Nacht beleuchten sie durch die Fenster die Umgebung
und lassen sie im Licht der historischen
Wahrheit erscheinen. Dem vergleichbar – allerdings
ohne den Blick ins Licht zu lenken – leuchtet
Kuball in Lüneburg den Verlauf des ehemaligen
»Gauleitungsbunkers« oberirdisch im Straßenverlauf
der Stadt heraus.11
Im Synagogen- und Bunkerprojekt wird der öffentliche
Raum zum Ort der Inszenierung des kollektiven
Gedächtnisses. Das öffentliche Licht erhellt
hier historische, die Gesellschaft prägende Sachverhalte.
Das heißt, während das öffentliche Licht
den realen Raum beleuchtet, erhellt es auch den
symbolischen Raum. Jenseits des begehbaren
Raumes ist der öffentlich Raum hier das gesellschaftlich
Gemeinsame, der Ort der symbolischen
Übereinkünfte.
In »Public Blend« dienen die privaten Lampen
ebenfalls einem öffentlichen Zweck: Sie sind zuerst
einmal ganz pragmatisch Straßenbeleuchtung.
Entscheidend dabei ist jedoch die private
Herkunft und der heterogene Charakter der
Lampen. Sie lassen sich mit einem Demokratiemodell
in Verbindung bringen, das Öffentlichkeit
im weitesten Sinne anarchisch-individualistisch
als Summe der unterschiedlichsten Artikulationen
versteht.12 In diesem Sinne können die verschiedenen
Lampen wie Akteure betrachtet werden,
die aus dem Haus getreten sind und sich nun auf
der Bühne des Öffentlichen bewegen. Das sich in
»Public Blend« abzeichnende individualistische
Öffentlichkeitsmodell wurde von Kuball im Jahr
2000 in Halle/Saale mit »public stage« wie in einer
Laborsituation getestet. Kuball stellte für drei
Wochen im Stadtraum eine Bühne samt Equipment zur
Verfügung, so dass sich jeder, der wollte,
öffentlich äußern konnte. Wie Dieter Daniels
feststellt, fand das damit möglich gewordene
Unerwartete nicht statt. Das Bedürfnis nach
»Selbstveröffentlichung« (Kuball) hielt sich in
Grenzen und folgte letztlich der Konvention.13
Die individuellen Akteure werden in »Public Blend«
durch die einzelnen Lampen repräsentiert. Das
Design der Lampen, ihre Materialität und ihre
Form, ist immer auch ein Distinktionsmerkmal,
das Rückschlüsse auf den Besitzer zulässt, zumal
in einer Gesellschaft, die sich bei wachsendem
Wohlstand, der sich gegenwärtig allerdings immer
mehr auf wenige konzentriert, über den »life
style« definiert. Wie eng die Bedeutung der Form
von den sozialen Verhältnisses abhängig ist, verdeutlichen
die Fotos von »Private Light / Public
Light«. Je ärmer die Bewohner, desto wahrscheinlicher,
dass das Design hinter der puren Notwendigkeit
zurücktritt und die nackte Glühbirne die
Lampe ersetzt.14
Ein ideales Ziel von »Public Blend« wäre ohne
Zweifel gewesen, die gesamte Nachbarschaft des
kunstraum muenchen bei Nacht, bei womöglich
abgeschalteter Straßenbeleuchtung, in das Licht
der Innenraumlampen zu tauchen. Der Schritt
über die Schwelle, die das Private und Öffentliche
trennt, macht jedoch deutlich, dass der scheinbar
freie öffentliche Raum von einer Fülle von
Regeln und Vorschriften überformt wird, die erst
dann zu Tage treten, wenn sie verletzt werden.
Dass der Außenraum besondere Schutzmaßnahmen
für Lampen, die gewöhnlich für trockene
Innenräume gedacht sind, erfordert, liegt nahe.
Kuball konstruierte zylindrische PVC-Zylinder, die
sie als Schutzhüllen und als in die Öffentlichkeit
transportierter privater Schutzraum umgeben.
Die Fülle von Sicherheitsvorschriften legt auch
fest, mit welcher Lichtstärke nachts eine Straße
in der Stadt beleuchtet sein muss. Die Vorschrift
verunmöglicht die Umschaltung vom öffentlich
verwalteten Licht auf das Licht der privaten Lampen,
von denen wiederum nur einige aufgrund
der technisch bedingten Sicherheitsvorgaben
installiert werden konnten.
Die in den Stadtraum transformierten Lampen
stellen das Private in den Dienst des Öffentlichen.
Wie in der Zwischenbeobachtung an der Ausgangsschleuse
deutlich wurde, reproduzieren die
einzelnen Einrichtungsgegenstände Standards,
die durch das Warenangebot vorgegeben werden.
Insofern tragen auch die privaten Lampen ein
Stück des Allgemeinen der Warenwelt in den öffentlichen
Raum, ein Thema, mit dem sich Mischa
Kuball in seiner dritten in São Paulo realisierten
Arbeit befasst hatte15: Er überklebte Leuchtreklamen,
so dass nur der Anfangsbuchstabe des
Firmennamens respektive der Werbebotschaft
übrig blieb. Die sichtbar gebliebenen Buchstaben
fügte er, von A bis Z, imaginär zum Alphabet zusammen.
Die überklebten Schriften wiederum
»synchronisierte« er mit Videosequenzen, auf
denen er Buchstabengebäck verzehrt. Das heißt:
Der öffentliche Raum wird von den ökonomisch
legitimierten Botschaften bereinigt und zurückgeführt
auf das Alphabet. Und doch haftet den
Buchstaben noch ihre Werbeherkunft an. Beim
Essen wird der Mund zur Schwelle, über die die
Buchstaben wandern und über die das öffentliche
Alphabet inkorporiert wird.
Anmerkungen
1 Schreinerdienst im Internet – www.schreinerdienst.de
2 Psychologisches Lexikon, Stichwort Schwelle –
www.psycholex.com
3 Slavoj Zizek, 2002. Zit. n.: Kat. A Century of Art and Consumer
Culture. Hg. von Max Hollein und Christoph Grunenberg,
Ostfildern Ruit, 2002, S. 91
4 Kat. Private Light / Public Light. Mischa Kuball. Deutscher
Beitrag zur 24. Biennale São Paulo 1998, hg. von Karin
Stempel, Ostfildern-Ruit, 1998
5 Vito Acconci, Untitled Piece for Pier 17, März 1971,
Performance West Street und Park Place, New York;
Vito Acconci, Following Piece, Oktober 1969, New York;
Vito Acconci, Where We Are Now (Who Are We Anyway?),
November 1976, Installation, Sonnabend Galerie, New York
6 Michael Ashers Beitrag für die »73rd American Exhibition
at the Art Institute of Chicago«, 1979
7 Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek. The Open Public
Library, Ostfildern-Ruit, 1994
8 Haim Steinbach – Interview mit Alexander Tolnay, in:
Haim Steinbach, North East South West, Ostfildern-Ruit,
2000, S. 43
9 Ulrich Krempel, Megazeichen, Mischa Kuball, Düsseldorf
1990
10 Mischa Kuball, in: Angelika Schallenberg (Hg.), Art Projects
/Synagoge Stommeln/ Kunstprojekte, Ostfildern-Ruit,
2000, S. 77–104
11 Kat. Mischa Kuball – urban context, Projekt Bunker
Lüneburg, hg. V. Hartmut Dähnhardt, Ruth Schulenburg,
Lüneburg, 2000
12 Zum Modell der demokratisch-individualistischen Selbstermächtigung
im öffentlichen Raum, s. auch: Heinz Schütz,
Demokratie, Kunst und öffentlicher Raum: Zwischen
Ermächtigung und Selbstermächtigung, in: Kat. kunstprojekte_
riem. Öffentliche Kunst für einen Münchner
Stadtteil, hg. von Claudia Büttner, Wien 2004. S. 218–230
13 Mischa Kuball, »And it’s a pleasure …« / Öffentlichkeit als
Labor, in: Florian Matzner (Hg.), Public Art. Kunst im öffentlichen
Raum, Ostfildern-Ruit, 2001, S. 460
14 Private Light, in: Kat. Private Light / Public Light, wie
Anm. 4, S. 21–93
15 Public Alphabet, in: Ebenda, S. 111–120
In: Mischa Kuball: public blend. catalogue related the exhibition "public blend" at kunstraum muenchen, (30.April-30.Mai 2004), ed. kunstraum muenchen 2004, p. 20-29.
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