Katharina Winnekes

 

Die Welt und das Bild - das Bild und die Welt

 

Der Blick dreht sich im Uhrzeigersinn auf einer imaginären Spirale aus der relativen Weite der

umgebenden städtebaulichen Situation in die räumliche Enge des Museumsraumes, um dort

den gleichen Weg erneut aufzunehmen. Draußen kommen Passanten von rechts über den

Platz, gehen am Haus entlang die Treppe hin unter und verschwinden langsam nach links

aus dem Gesichtsfeld. Autos biegen um die Ecke. Das Auge schweift über die umliegenden

Gebäude, bleibt für Sekundenbruchteile an Musikinstrumenten in einem Schaufenster hängen,

überspringt die befahrene Straße, fällt auf die Leuchtschriften eines Cafés und mehrerer Re-

staurants, schwingt in die Höhe, an Bürofenstern entlang, wird abgelenkt auf einen Brunnen,

nimmt den alten Weg wieder auf und gleitet über die Fensterfront des rechts vom Brunnen

liegenden Geschäftshauses, springt auf die andere Straßenseite, schweift ruhig über die

gleichmäßig gegliederte Fassade eines Hotels mit verglaster Arkade und verliert sich im

kleinteiligen Budendorf des Weihnachtsmarktes.

 

Drinnen folgt der Blick einem schemenhaften Bild, welches im Uhrzeigersinn über die Wand,

jeden Körper im Raum und die Fensterscheibe zieht, gefolgt von einem zweiten rotierenden

Bild: Reflektionen einer Licht-Bild-Projektion, die durch ihren symmetrischen Aufbau diffuse

Erinnerungen an Gebilde der Natur wachrufen. Offen und vielfältig sind die Vorstellungen, die

sich mit dem Bild verknüpfen, - eindeutig erkennbar zwei spiegelsymmetrisch angeordnete,

einander teilweise überlagernde Weltkarten. Beide drehen sich - zunächst fast unmerklich –in

entgegengesetzter Richtung um die Äquatorachse, so daß die in der Aufsicht erscheinende

Fläche immer wieder schrittweise schmaler und breiter und wieder schmaler und wieder breiter

wird. Entsprechend verändern sich die kreisenden Licht-Bild-Reflektionen, die auch eine

dreigesichtige, als Hl. Dreifaltigkeit zu interpretierende Skulptur aus der Sammlung des

Museums zum Bestandteil der raumgreifenden Arbeit machen und jeden einbeziehen, der den

Raum betritt.

 

Mischa Kuballs so einfach erscheinende und ganz selbstverständlich wahrzunehmende rotie-

rende Dia-Projektion mit dem barocken “Dreigesicht“ entpuppt sich als komplexe Arbeit über

die Wechselbeziehungen zwischen der Welt der Dinge, der Welt der Vorstellungen und der

Welt der Bilder. Alles dreht sich, alles verändert sich: Bilder werden von neuen Bildern über-

lagert, Vorstellungen durch neue Vorstellungen abgelöst, scheinbar eindeutige Bilder mit nicht

festgelegten Vorstellungen verknüpft, und Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, geraten

in vielfältige Beziehung zueinander.

 

Was ist eigentlich die Welt? Ist sie wie in der Dia-Projektion eine gedankliche Projektion derer,

die sie zu kennen glauben? - Die Vorstellung von Welt, wie sie sich in einer Weltkarte manifestiert,

erwächst aus dem Grundbedürfnis des Menschen, die Welt der Dinge und die Welt als Vorstellung

in repräsentative Bilder zu fassen. Immer wieder, solange die Menschheit existiert und die Welt,

in der sie lebt, bildhaft zu erfassen versucht, hat sie neue Vorstellungen geprägt. So betrachtet ist

die von Kuball verwendete Weltkarte keineswegs nur graphische Systematisierung der heutzutage

exakt vermeßbaren und photographisch erfaßbaren Topographie. Sie ist nicht nur ein Bild der Welt,

sondern repräsentiert auch ein modernes Weltbild, eine Sicht von Welt, die sich so erst durch die

technischen und rechnerischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts ergibt. Fast möchte man glauben,

der Archimedische Punkt, von dem aus die Welt aus den Angeln zu heben wäre, sei entdeckt.

 

Aber im nächsten Augenblick treten an die Stelle eines durch Vermessen und somit durch

gesellschaftliche Übereinkunft definierten Bildes der äußeren Welt individuelle Vorstellungen aus

unbewußten Innenwelten. Auslöser ist die klappsymmetrische Anordnung zweier Weltkarten, die

an die Darstellung von Lungenflügeln erinnern könnte, oder an die beiden Hälften des Gehirns, an

ein  Gesicht, einen Schmetterling, eine Orchideenblüte oder zig andere Dinge ... - Beim Rorschach-Test

Dienen ähnliche symmetrische Klecksbilder als psychologisch-diagnostisches Verfahren zur freien

Phantasiedeutung, die als Basis für Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur der Bildinterpreten

dienen. Wie sehr solche scheinbar ganz persönlichen inneren Bilder von den kollektiven

Vorstellungen des kulturellen Umfelds geprägt sind, hat sich in der Rauschmittelforschung

gezeigt: Die durch Drogen hervorgerufenen Halluzinationen, ebenfalls unbewußte Bilder,

sind kulturgebunden. Anders gesagt: an einen Schmetterling kann bei Kuballs Projektion

nur jemand denken, der schon einmal einen Schmetterling gesehen hat oder dem man zu

mindest einen Schmetterling beschrieben hat. So steht der Blick nach innen, in den persönli-

chen Mikrokosmos, in einem ständigen Spannungsverhältnis mit der von außen kommenden

Projektion des Makrokosmos: vielfältige, intuitive Assoziationen wie “Schmetterling“ oder

“Orchideenblüte“ konkurrieren mit dem analytischen Wahrnehmen und Erkennen eines aus

zwei Weltkarten konstruierten Licht-Bildes. Es sind zwei Weisen der Wahrnehmung, die zu

nächst nur nacheinander erfolgen können. Erst wenn sie als solche bewußt geworden sind,

kann sich in der wiederholten Wahrnehmung das Erkennen der Weltkarten mit der Assozia-

tion “Schmetterling“, “Orchidee“ oder anderen vermischen. Dann ist der auf den Makrokos-

mos “Welt“ gerichtete Blick gleichzeitig der auf den Mikrokosmos des Unbewußten gerichtete

und umgekehrt. - Und ständig verändert sich das Bild der äußeren wie der inneren Welt da

durch, daß sie sich dreht und daß sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird.

 

Beide - Innenschau und Projektion - werden in regelmäßigen Zeitabständen gestört und von

ihren eigenen Reflektionen eingeholt; denn die Weltkartenprojektionen spiegeln sich in zwei

rotierenden Glasscheiben, welche die Bilder als Reflektionen auf den Raumgrenzen und auf

allem, was sich im Raum befindet, kreisen lassen. So fällt die projizierte Vorstellung von

der Welt auf jene zurück, die in ihr leben. Gleichzeitig berührt sie das barocke “Dreigesicht“,

das - als bloßes Phänomen betrachtet - mit drei Phasen eines sich drehenden Gesichtes die Torsion,

genauer gesagt, die Phasen einer Kopfdrehung zum Thema haben könnte, gleichermaßen aber

auch die Zeit oder die Klugheit mit dem Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Wahrscheinlich jedoch ist die Skulptur ein Versuch, die mit den Erkenntnismöglichkeiten der

Sinne, des Verstandes und der Intuition nicht definierbaren Vorstellung von der göttlichen

Dreifaltigkeit als dem auch von Theologen aller Zeiten immer wieder neu eingekreisten “In-

drei-Personen-einer“ in ein anschauliches Bild zu fassen.

 

Wenn dieses Dreigesicht als Darstellung der Dreifaltigkeit in die Kuball‘sche Installation ein-

bezogen wird, stellt sich die Frage nach den dadurch entstehenden Wechselbeziehungen.

Vordergründig spielt sicher die sowohl in der Skulptur als auch in der Dia-Projektion angelegte

Rotation eine Rolle. Darüber hinaus sind beide Werke in einem weiteren Sinne Versuche,

komplexe Bezugssysteme - zwischen den nicht kognitiv, nur glaubend faßbaren drei Wesen-

heiten einer Person das eine, zwischen den individuellen Welten und der allgemeinen Sicht

von Welt das andere - in eine verdichtete Form zu bringen. Durch Mischa Kuballs Installation

sind die formal so unterschiedlichen, durch drei Jahrhunderte und durch einen veränderten

Blick auf die Welt getrennten Werke so in Verbindung gebracht worden, daß die (Dia-) Reflektion

der Welt immer wieder die künstlerische Reflektion über eine Gottesvorstellung berührt.

 

Alles dreht sich: die Welt, die Reflektion der Welt, der Betrachter und seine An-Sicht von

Welt. “Gib mir einen festen Punkt, und ich bewege die Erde“, sagte Archimedes. In Mischa

Kuballs rotierender Dia-Projektion World-Rorschach/Rorschach-World scheint er gegeben,

dieser feste Punkt außerhalb der Erde, von dem aus die Welt in ein System gebracht wird, von

dem aus ein Weltbild als in sich geschlossene Vorstellung von Welt formuliert wird. Aber: Alles

dreht sich, alles verändert sich - auch wir drehen uns und verändern uns, und mit der Drehung, der

Reflektion vergeht der Augenblick, der ein Bild definiert, und mit dem Augenblick vergeht das

Bild und an seine Stelle tritt ein anderes.

 

 

In: Mischa Kuball: World-Rorschach/Rorschach-World; ed.: Diözesanmuseum Köln 1996


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