Julian Heynen




Sich kreuzende Blicke - Meeting Eyes

Auch wenn man ohne besondere Vorurteile oder Ängste gegenüber der Apparate-Medizin

den Kernbereich der neurochirurgischen Klinik betritt, beeindrucken die kompakte Präzision

und Stummheit der Maschinen. Auch ohne daß man etwas über die genaue Funktionsweise

und Leistungsfähigkeit der Instrumente erfährt, berührt schon das vage Wissen über ihre

Eigenschaften die Grundlagen unseres Welt- und Selbstverständnisses. Diese Maschinen

können das sehen, was unserem Auge verborgen ist. Anders als etwa ein Fernrohr oder ein

Radargerät machen sie jedoch nicht Objekte draußen in der Welt sichtbar, sondern unser eigenes

Inneres. Und sie tun das in vivo, bei lebendigem, unversehrtem Körper. Selbst wenn es hier

„nur“ um das Erspähen bestimmter organischer Regionen geht, ist der Vergleich mit dem Blick

in die Seele nicht völlig abwegig. Es werden dem Auge Räume erschlossen, die ihm in der

bisherigen Menschheitsgeschichte unzugänglich waren. Das, was früher  nur durch das eigene

Gefühl bzw. dem Arzt durch indirekte Anzeichen vermittelt wurde oder mit Hilfe von Kennt-

nissen und Spekulation imaginiert werden musste, ist durch diese neuen Instrumente nun dem

Auge selbst in noch nicht gekannter Deutlichkeit preisgegeben.

 

Dem Sehen mit den eigenen Augen wird gemeinhin immer noch die höchste Beweiskraft zu-

gebilligt – so sehr uns die Bildmedien der Moderne hierin auch skeptisch gemacht haben. Wenn

die Erfahrung des Sehens =  Kennens nun in unser Innerstes dringen kann, wird eine bis lang

verschlossene Zone verletzt, etwas bisher verborgenes wird im wahrsten Sinne des Wortes ans

Licht gezogen. Und wenn das Auge so nun „alles“ sehen kann, ist auch ein Zentrum unserer

Identität berührt. Der Hinweis auf die heilende Absicht dieser Grenzüberschreitung bringt die

Irritationen des Selbstverständnisses nicht wirklich zum Schweigen. Hier, In diesen Geräten,

nämlich ist unsere gewohnte Vorstellung vom Zentralorgan Auge und seiner unmittelbaren Nähe

zur Erkenntnis, zum Wissen und zum Sein gleichsam durch eine Art von Überfüllung seiner

Möglichkeiten infrage gestellt.

 

Beeinflussen schon die neuen bildgebenden Diagnoseverfahren – so betrachtet – die Wurzeln

unseres Selbstverständnisses, geht ein Werkzeug wie das Gamma Knife noch einen Schritt

weiter. Es sieht nicht nur in Verborgenes hinein. Es benutzt gleichsam eine Art Sehvorgang als

Waffe, um etwas Falsches im Innern eines Menschenzentrums schlechthin, dem Gehirn, zu

zerstören. In gewisser Weise ist so eine alte magische Befürchtung wahr geworden: Blicke

können töten. Solche Maschinen und solche Fragen müssen einen Künstler interessieren, für

den das Licht nicht allein Medium, sondern Thema ist. Wenn er zudem das Licht nicht nur als

physikalisches Phänomen begreift, sondern als einen sozialen Raum, wird die Affinität zu einer

solchen Klinik, in der es ja nicht um die Demonstration von Technik, sondern um den heilenden

Umgang mit Menschen geht, noch deutlicher. Mischa Kuball bewegt sich als Künstler im gleichen

Dreieck von Sehen, Erkennen und Handeln; er operiert im gleichen Spannungsfeld zwischen

isolierten Phänomenen und sozialer Interaktion. Seine Arbeit reflektiert diese Fragen im Raum

der Bilder und Blicke – unaufdnnglich, ja fast beiläufig.

 

Schon bald muß ihm klar geworden sein, daß er der intensiven, wenn auch kaschierten Präsenz

der medizinischen Apparate keinen vergleichbaren künstlerischen Aufwand entgegensetzen kann.

Nicht nur aus räumlichen Gründen hat er daher auf den Einsatz von Lichtquellen und Projektionen,

mit denen er sonst häufig arbeitet, verzichtet. Sein Beitrag beschränkt sich auf die traditionelle

Form des Bildes an der Wand. In einer Architektur, deren hohe Spezialisierung dem Besucher ver-

borgen bleibt, hat er den Zugangskorridor und den kleinen Wartebereich für Patienten und Ange-

hörige gewählt. Der Nüchternheit und Alltäglichkeit dieser Räume antwortet er mit einem

Typus von Bild, wie man ihn an solchen Orten als dekorativen Teil der Ausstattung häufig findet:

einem Foto hinter Glas in einem funktionalen Metallrahmen. Es ist sechsmal das gleiche, nur ein

wenig variierte Motiv, das einem auf dem Weg zu den Behandlungsräumen begegnet. Die

Darstellung ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, erweckt jedoch unmittelbar den Eindruck einer

gewissen Konzentration. Man sieht eine kreisförmige Anordnung von Lichtreflexen, die in

der Mitte gebündelt sind und gleichzeitig wie durch ein Prisma gebrochen scheinen. Durch

diese Auflösung hindurch meint man bisweilen jedoch das Bild eines realen Außenraums

erkennen zu können. Und in der Tat sind diese Fotos Einzelaufnahmen aus einem Video des

Künstlers mit dem Titel „Stadt durch Glas (Sieh‘ durch meine Augen)“, 1995/96. Er hatte für

diesen Film ein einfaches, vielkantiges Wasserglas über das Objektiv der Kamera gestülpt und

so eine Autofahrt bzw. einen Fußweg durch eine Stadt aufgenommen. Im Film und auf den

Fotos entstand so ein mit einfachsten Mitteln herbeigeführter Perspektivwechsel, der als eine

Art von Bildstörung erlebt wird. Das Eigentümliche des Blicks durch den ungewohnten Seh-

apparat ist jedoch, daß die Auflösung und Verzerrung der Realität aufgewogen wird durch eine

bestimmte Art von Sammlung. Der etwas geheimnisvolle Fokus dieser Betrachtung suggeriert,

dass in seinem Zentrum das Wesentliche zu suchen sei. Und nicht von ungefähr erinnert das

Motiv auch an ein Auge – also an das Fenster zur Seele, um es altmodisch aus zudrücken –

oder an einen leuchtenden Himmelskörper.

 

Ergänzt werden die Fotos jeweils durch einen vertikalen Spiegel, der sich unmittelbar an das

Motiv anschließt. Neben den Fokus des Blicks durch das Glas auf etwas, das anderswo ist, tritt

also die Reflexion des realen Raums, in dem man sich befindet. Die Spiegelbilder vermitteln

zwar eine leicht einsehbare und überprüfbare Wirklichkeit in nächster Nähe, zerstreuen aber

gleichzeitig den Blick, da sie bei jeder Bewegung des Betrachters neue Fragmente der Um-

gebung einblenden. Geht man den Korridor entlang, werden die gegenüberliegende Wand

ebenso wie der Außenraum jenseits der Fenster oder auch die Menschen im Gang für einen

kurzen Moment Teil des Gesamtbildes.

Die Spiegel sind wie Gelenkstellen, die –wenn auch in „verkehrter“ und flüchtiger Weise – die

Arbeit an ihren Ort binden. Die Wiederholung ähnlicher Motive in den Bildern will so weniger

als eine Reihe von Einzelarbeiten gelesen werden, sondern als ein den Raum bezogenes Kon-

tinuum, als eine zusammenhängende Arbeit, die unter anderem die Blicke und Schritte dessen

leitet, der sich auf den Kern dieses Ortes zubewegt. Und wenn die Türen zu den verschiedenen

Kontroll- und Behandlungsräumen aufgehen, geraten die Bilder des Künstlers in direkte Nach-

barschaft zu den bildgebenden Sehapparaten der Klinik. Für einen Moment kreuzen sich die

medizinischen und die künstlerischen Blicke im Auge des Betrachters – bildlich gesprochen.

 

Die Arbeit von Mischa Kuball in der neurochirurgischen Klinik thematisiert das Sehen selbst,

das notwendigerweise bei seiner Orientierungsaufgabe in der Welt ständig zwischen Konzentra-

tion und Auflösung, zwischen Fokussierung und Zerstreuung pendelt. Sie spielt zugleich in nicht

illustrativer Weise auf die unterschiedlichen Verfahren und Instrumente an, mit denen das Sehen

konkrete Aufgaben besser zu erfüllen sucht. Und sie schlägt an diesem Ort eines aufs höchste

gesteigerten Sehens -  und seiner an ‚Wunder“ grenzenden Folgen – eine Brücke zwischen der

stummen Dominanz der Maschinen, dem realen Umraum und den hier agierenden Menschen.

Die Arbeit tut das in der zurück haltenden, ja bewußt konventionellen Form von Bildern, die

an einem Ort von Präzision und Anspannung ebenso Ruhepunkte setzen wie „Reflexion“ und

„Ausblick“ ermöglichen.





In: Mischa Kuball: "Sieh' durch meine Augen / Stadt durch Glas", ed.: Prof. Dr. Frank Ulrich; Dr. Gerhard A. Horstmann, Krefeld/ Düsseldorf 1999


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