Noemi Smolik (BAUHAUS-BLOCK)




Vom Bauhaus zum Bürohaus – das standardisierte Leben

 

 

Als der amerikanische Kunskritiker (sic.) Tom Wolfe in seinem Buch „Mit dem Bauhaus leben“ vor mehr als zehn

Jahren „Down the Bauhaus“ ausrief, war die Welt schockiert. Man wußte zwar, daß die zeitgenössische Architektur

– und nicht nur die amerikanische – sich seit geraumer Zeit im Zustand chronischer Agonie befand, doch daß der

Ursprung dieser Agonie schon in den Anfängen, das heißt beim Bauhaus selbst, zu suchen sei – diese Diagnose

wagte bis dahin keiner so laut und deutlich auszusprechen.

 

Daher bedeutete es für viele eine unverzeihliche Ketzerei, das Bauhaus, diese einstige Bastion der Modernität

und des Fortschritts, für die allgemeine Misere der Architektur verantwortlich machen zu wollen. Zwar litt man

schon immer unter den gesichtslosen, standardisierten, rational gebauten, Grau in Grau gehaltenen, trostlosen

Anhäufungen abweisender Glas-Beton-Stahl-Kästen, durch welche ihre Bewohner – um Tom Wolfe noch einmal

zu zitieren – „bis an den Rand des sinnlichen Entzugskomas getrieben wurden“, doch daß dieser sinnliche

Entzug dem Bauhaus zu verdanken sei? Nein, das wagte man nicht einmal zu denken. War es doch ausgerechnet

das Bauhaus, das eine neue Sinnlichkeit verkündete. Sie wollte man doch der — wie man glaubte – durch die kapi-

talistische Produktion ästhetisch und ethisch verhunzten Umwelt entgegenstellen. Nicht das Bauhaus sei schuld,

glaubten daher die meisten, sondern die unerquicklichen Bedingungen der kapitalistischen Produktion und die

sozialen Beziehungen der auf den kapitalistischen Prinzipien basierenden Gesellschaft, welche die Bauhaus-

Sinnlichkeit an voller Entfaltung gehindert hätten.

 

Doch haben die kapitalistischen Prinzipien wirklich die Bauhaus-Sinnlichkeit in ihrer Entfaltung behindert? Hat sich

nicht vielmehr diese Sinnlichkeit mit ihrer Vorstellung von Standard, Rationalisierung, strenger Form, funktionaler

Umsetzung, Internationalismus und mit ihrem Versuch, die subjektiven Bedürfnisse im Hinblick auf eine kollektive

Gesellschaft zu überwinden, nicht fast uneingeschränkt durchsetzen können? Hat nicht die vom Bauhaus ausge-

gangene Sinnlichkeit unsere Umwelt nachhaltig geprägt? So geprägt, daß das Bild unserer Städte, unserer unmit-

telbaren Umgebung vom einfachen Stuhl bis zur Teekanne, von der Türklinke bis zum Löffel, vom bescheidenen

Einfamilienhaus bis zum vielstöckigen Bürokomplex nicht ohne die vom Bauhaus ausgegangenen Anregungen

denkbar ist? Kaum ein anderer Stil hat in diesem Jahrhundert eine solche internationale Ausbreitung über die

sozialen Schichten hinweg erfahren. Und dennoch: Kein anderer Stil als der Bauhaus-Stil hat sich mit seinem

Siegeszug selbst so in Frage gestellt. Denn – und da hat Tom Wolfe durchaus recht – der Bauhaus-Stil hat dazu

beigetragen, genau das zu etablieren, wogegen er ursprünglich angetreten war: Das war die Anonymität und

Unwirtlichkeit unserer Städte, resultierend aus den langweilig gleichen, nach Standard vorgefertigten und um

Strenge, Funktionalität und Einfachheit bemühten Bauten der zahlreichen Bauhaus Nachzügler.

 

Und da erhebt sich die Frage: Wie kam es, daß eine Bewegung, die gegen die Anonymität und Trostlosigkeit

unserer Umwelt angetreten war, immer schon die Elemente genau der-jenigen Bedingungen in sich trug,

welche die Anonymität und Trostlosigkeit verstärkten? Wie kam es, daß die menschlich bestimmte Unmittel-

barkeit, mit der man sich den vorgegebenen Zielen widmete, immer schon von ihrem Gegenteil angesteckt war?

Denn um dieses „immer schon“ geht es hier, wenn wir fragen: Wie konnte es passieren, daß eine Bewegung,

die so viel Wert auf die zwischenmenschliche Beziehung legte, immer gleich-zeitig auch schon durch die Miß-

achtung dieser Beziehung geprägt war?

 

In seinem 1923 in der Bauhaus-Reihe herausgegebenen Buch „Die neue Architektur und das Bauhaus“ nennt

Walter Gropius zwei Grundsätze, die für die neue Architektur von entscheidender Bedeutung seien: Diese

Grundsätze sind die Standardisierung und die Rationalisierung der Architektur. Das Wort Standardisierung

entnahm Gropius der industriellen Produktion. Er meinte damit die Unterwerfung aller architektonischen

Elemente, ähnlich wie in der Industrie, unter eine einheitliche und verbindliche Norm. Diese Norm sollte es

möglich machen, die einzelnen Elemente untereinander auszutauschen und zu ersetzen. Dies hatte zwar für

die Architektur eine ganze Menge praktischer Vorteile, führte jedoch unvermeidlich zu einer Vereinheitlichung

der Formen, welche – wie sich schon bald herausstellen sollte – die trostlose Langeweile nach sich zog.

 

Den Begriff der Rationalisierung entnahm Gropius der kapitalistischen Produktions-weise. Auch hier ging es

darum, bei möglichst niedrigen Preisen hohe Qualität der Produkte zu erzielen. Das sollte durch eine maximale

Rationalisierung der Produktion und durch den Einsatz neuer Materialien wie des Stahls, des Betons und des

Glases geschehen. Somit ist Gropius mit seinem Begriff der Rationalisierung der kapitalistischen Vision ver-

pflichtet geblieben. Daher entsprachen diese beiden Forderungen nach Standardisierung und Rationalisierung

der Architektur – und nicht widersprachen, wie fälschlich behauptet wird – genau den Grundsätzen kapitalis-

tischer Massenproduktion. Darüber hinaus wurden sie noch von einem allgemeinen Streben nach Objekti-

vierung verstärkt, die eigentlich mit der Verdinglichung des Subjekts durch die Massenproduktion parallel lief.

 

1927 forderte Gropius in einem gleichnamigen Buch über die internationale Architektur, zu der der Bauhaus-

Stil die ästhetische und ethische Grundlage geliefert hatte: „In der modernen Baukunst ist die Objektivierung

von Persönlichem und Nationalem deutlich erkennbar.“ Tatsächlich war es auch das Anliegen der Bauhaus-

Sinnlichkeit, sich von allem Individuellen, Persönlichen, Zufälligen und Unausgeglichenen endgültig zu trennen

und eine überindividuelle Vorstellung zu vertreten, die als modellhaft für die gesamte Allgemeinheit be-

trachtet werden sollte. Die Welt wurde „entgöttert“ und zur selben Zeit entpersönlicht – wie Oskar Schlemmer

sagte – und es war die Aufgabe der Kunst, vor allem aber der Architektur, „zukunftsgläubig-himmel-stürmend

die Kathedrale des Sozialismus“ bauen zu wollen. Daß solche entpersönlichten und entgötterten Kathedralen

der Zukunft immer schon die Gefahr der Anonymität und der Entfremdung in sich trugen, braucht nicht

besonders hervorgehoben zu werden. Diese Erfahrung haben wir in unserem Jahrhundert der Modernität

genügend oft gemacht, um nun wissen zu können, dass hinter jeder Objektivierung die kalte, formal zwar

vollendete, aber dennoch irgendwie gespenstische Maske der Anonymität lauert.

 

Dies ist die Antwort auf unsere Frage, wie es kam, daß eine Bewegung, die so viel Wert auf die zwischen-

menschliche Beziehung legte, sich am Ende durch Mißachtung dieser Be-ziehungen auszeichnete. Die

Antwort lautet: Weil diese Bewegung in der Logik des kapi-talistischen Produktionssystems verhaftet blieb,

und dies, obwohl sie glaubte, gerade gegen diese Logik vorzugehen. Das ist zwar paradox, aber dieses

Paradoxon ist in der Geschichte der Moderne nicht nur nichts Ungewöhnliches, sondern – um es mit den

Worten der amerikanischen Kunstkritikerin Rosalind Krauss zu formulieren – „man könnte sogar sagen,

es ist die Grundnatur der Beziehung der modernen Kunst zum Kapital, einer Beziehung, in der der Künstler

gerade in seinem Widerstand gegen eine bestimmte Manifestation des Kapitals — die Technik etwa oder

der Warencharakter oder die Verdinglichung des Subjekts der Massenproduktion – eine Alternative zu

dem jeweiligen Phänomen produziert, die sich genausogut als dessen Funktion lesen läßt, als eine andere,

wenn gleich vielleicht feiner ausgebildete Version eben dessen, wogegen sie sich eigentlich gerichtet hatte.“

 

Dieses Grundmuster der Moderne ist von den Anfängen des Bauhaus-Stils über den Internationalen Stil

der Architektur bis zu der technisch hergestellten Skulptur der Minimalisten zu verfolgen. Dabei ist der

Internationale Stil vielleicht das krasseste Beispiel für die komplizierte Beziehung der modernen Kunst

zu den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. Als eine vom Bauhaus ausgegangene Bewegung

war er gegen die zerrüttete Stadtstuktur angetreten, zu der er eine futuristische Alternative entworfen

hatte. Doch indem er gleichzeitig das ursprüngliche, angeblich veraltete Netzwerk von Stadtvierteln mit

seinen kulturellen und sozialen Beziehungen zerstörte, bereitete er den Boden für eben jene Trost-

losigkeit und Anonymität der Städte. Das wird uns erst heute klar. In den 20er Jahren gab es jedoch

kaum jemanden, dem diese Zusammenhänge bewußt gewesen wären. Einer allerdings ahnte es. Der

aus Rußland kommende Künstler und seit 1921 am Bauhaus tätige Lehrer Wassily Kandinsky machte

schon immer in seinen Schriften auf die Einseitigkeit der materialistisch-formalistischen — wie er es

nannte Ausrichtung der Bauhaus-Ästhetik aufmerksam: Diese Ausrichtung setze sich über die Natur

des Menschen, zu welcher das Gefühl, die Subjektivität, das Zufällige und Unausgeglichene gehören,

hinweg.

 

Kandinsky selbst stellte dem rationalen Umgang mit der Kunst die Intuition entgegen, da er glaubte,

nur sie könne zwischen der äußerlichen, materiell ausgerichteten Seite und der tieferen, geistigen Seite

des Lebens vermitteln. Diese Intuition vermißte er bei den konstruktivistischen Bestrebungen der

Bauhäusler: „Die Künstler, die sich ‚reine Konstruk-tivisten’ nennen, haben verschiedene Versuche

gemacht, um auf einer rein materialis-tischen Basis zu konstruieren. Sie versuchten das ‚veraltete’

Gefühl (Intuition) wegzuschaffen, um der ‚vernünftigen’ Gegenwart mit Mitteln zu dienen, die ihr

angepaßt sind.“ In dieser Anpassung an die materialistisch-formalistischen Bedürfnisse der kapitalis-

tischen Produktionsweise sah Kandinsky das rückständige Element der Bauhaus-Ästhetik. Doch wer

hörte damals schon auf Kandinsky? Die Bauhäusler ganz bestimmt nicht, worüber sich auch Kandinsky

in einem Brief an Will Grohmann bitter beschwerte: „Sie wissen ja auch, daß das Bauhaus als solches

mit ’der reinen Kunst’ nichts zu tun hat und dass unsere Kunst im Bauhaus in keiner Weise verwendet

wird.“ Daß Kandinsky mit dieser Kritik um einiges der Bauhaus-Ästhetik voraus war, fangen wir erst

heute an zu sehen.

 


 

 

 

In: Mischa Kuball: Bauhaus-Block, ed.: Lutz Schöbe, in order of Bauhaus Dessau Edition Crantz, Stuttgart 1992, p. 112-116.

© all rights reserved by the author

Archive