Karin Stempel

 

Blaupause

 

„Manchmal genügt mir eine Lichtung in einer maßlosen Landschaft, ein Aufleuchten von Lichtern im Nebel, der Dialog zweier Passanten, die sich im Gedränge begegnen, mir vorzustellen, daß ich von hier Stück um Stück die vollkommene Stadt zusammensetzen werde, errichtet aus Fragmenten, die mit dem Rest vermischt sind, aus Augenblicken, die durch Intervalle getrennt sind, aus Signalen, die einer ausschickt, ohne zu wissen, wer sie empfängt.“

 

Der Anlaß

Die ehemalige Hauptpost in Mühlheim an der Ruhr wird zum städtischen Kunstmuseum umgebaut. Ein Gebäude, dessen Funktion im Wandel begriffen ist, verändert sich. Die entkernte Architektur, die zwischen einer anderen Vergangenheit und der Gegenwart eines anderen ist, ist der Anlaß und der Ort für eine Ausstellung, in der Architektur ins Verhältnis gesetzt und als Verhältnis begriffen wird. Mischa Kuball, der sich in seinen Arbeiten mit der Verhältnismäßigkeit von Architektur auseinandersetzt, ihre Utopie, ihre Ideologie, ihre Funktion, ihren Gebrauch und ihren Mißbrauch, ihre Konzeption und ihre Rezeption, kurz ihre fraglos fragwürdige Wirklichkeit von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und in seinen Installationen unter Verwendung von Projektionen historischer Architekturen in Szene setzt, ist ein Künstler, der diese Situation zum Anlaß für ein Projekt nimmt, in dem er eine Gleichung mit zwei Unbekannten aufstellt. Die Lösung ist identisch mit dem Problem. Ist die Form eine Reflexion der Funktion, ist die Funktion eine Projektion der Form – oder umgekehrt? Frage und Antwort stehen in einem reziproken Verhältnis, entscheidend ist die Bruchstelle, die das Verhältnis definiert.

 

„Das eine birgt das für notwendig Gehaltene, während es dies noch nicht ist; die anderen das als möglich Erdachte, was es eine Minute später nicht mehr ist.“

 

Der Umbruch

Eins ist gewiß: Es gab eine Vergangenheit, doch diese ist nicht die Vergangenheit der Zukunft sondern eine andere. Der Raum, um den es geht, ist keine Leere, sondern besetzt, definiert und strukturiert nach Maßgabe von Funktionen, die Form als Zusammenhang und Zusammenspiel der unterschiedlichen Zwecke, die ihren Sinn verloren haben, hervorgebracht hat. Architekturen, deren Funktionen der Vergangenheit angehören, echt und fiktiv, gebildet und abgebildet, projezierte Wirklichkeiten und die Wirklichkeit der Projektionen treffen sich in einer Architektur, deren Gegenwart im Abseits liegt.

Die Ausstellung ist eine Zäsur zwischen den Zeilen, ein Einschnitt im Abstand. Mischa Kuball reflektiert in diesem Projekt Architektur im Zusammenhang von Wirklichkeit und Projektion, einem Zusammenhang, der im Zusammenspiel mit einer Architektur im Übergang den Umbruch des einen in das andere spiegelt und widerspiegelt und sich darin selbst in Frage stellt.

 

„Jedem Gesicht und jeder Geste antworten aus dem Spiegel ein Gesicht und eine Geste, die Punkt für Punkt umgekehrt sind.“

 

Die Situation

Architektur unterwegs in eine Zukunft, in der Vergangenheit und ihre nicht verwirklichten Zukünfte erlebt werden sollen, Architektur unterwegs in eine Zukunft, in der die möglichen Zukünfte einer nicht verwirklichten Vergangenheit erlebt werden sollen – ein Museum als Baustelle, symptomatisch für den Wandel, die Verwandlung, den Übergang, eine Baustelle als Museum – Schnittpunkt zweier Koordinaten, die sich in Raum und Zeit auflösen, Zusammentreffen zweier Ideologien im Gegenlicht, Ort ohne Gegenwart, flüchtige und heimliche Werkstatt des Alchimisten zwischen Memento mori und Mimicry.

Ein Projekt auf des Messers Schneide, der Künstler ein Mittler zwischen den Welten, der im Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Projektion die Zeichen vertauscht und in der Ungewißheit des Provisorischen die flüchtige Inszenierung von Architekturen mit Gedachtem und Denkbarem, mit Erlebtem und Erlebbarem konfrontiert, dessen Wirklichkeit mehr als eine Projektion und dessen Projektion mehr als eine Wirklichkeit beinhaltet.

 

„Das Anderswo ist ein Spiegel im Negativ.“

 

Die Eigenart

Flüchtige Verbindungen zwischen Projektion und Wirklichkeit in und auf unterschiedlichen Realitätsebenen des Projektes erzeugen eine eigensinnige und widersprüchliche Konstellation, in der man sich gleichzeitig ergehen und verlieren kann. Blicke, Gedanken, en passant, momentanes Zusammentreffen und Auseinander treten, Schlaglichter und Irrlichter, plötzliche Brechung, Deutungen und Bedeutungen, verzerrte Perspektiven, Krümmungen, nichts hat Bestand, nur der Wandel ist beständig. Die Reflexion der Bewegung sieht sich mit der Bewegung der Reflektion konfrontiert. Es gilt Schritt zu halten, um im Umbruch zu verweilen. Nicht die Asthetik des Verschwindens zelebrieren, sondern das Verschwinden als

Asthetik begreifen.

Das Ungeklärte birgt die Klarheit, denn nichts ist mit sich selbst identisch, alles ist auch Metapher und Gleichnis für das andere. Wirklichkeit und Projektion durchdringen sich in der Architektur, der realen und der fingierten, der rudimentären und der fiktiven, und definieren in der wechselseitigen Beziehung und Bezüglichkeit den zwiespältigen Raum der Reflexion.

 

„Blickt einer, nicht zufrieden mit diesen Antworten, durch einen Spalt im Bretterzaun, so sieht er Kräne, die andere Kräne hochziehen, Verschalungen, die andere Verschalungen umschließen, Balken, die andere Balken stützen. „Was für einen Sinn hat euer Bauen?“ fragt er. „Was ist der Zweck einer im Bau befindlichen Stadt, wenn nicht eine Stadt? Wo ist der Plan, nach dem ihr euch richtet, das Projekt?“ „Wir zeigen es dir, wenn der Arbeitstag vorüber ist; jetzt können wir hier nicht unterbrechen‘ antworten sie.“

 

Das Projekt

Es ist ein Wagnis und erfordert dauernde Vorsicht, denn es geht an die Grenzen und so leicht verlieren sich die Unterschiede im Ungewißen wie die Ahnung im Unbewußten. Unwillkürlich mischt sich Werk und Willkür, Situation und Setzung. Wo ist die Grenze zwischen Projekt und Projektion, zwischen Werk und Wirkung, wenn die Reflexion hinterrücks und rücklings jede Trennung unterläuft und jeden Unterschied in Frage stellt?

 

Doch ist die Frage nicht nur eine Projektion der Antwort und die Antwort eine Reflexion der Frage?

Das Verfahren ist eröffnet, das Projekt die Projektion als Wirklichkeit.

 

„Draußen dehnt sich das leere Land bis zum Horizont, tut sich der Himmel auf, wo die Wolken laufen. In der Form, die Zufall und Wind den Wolken verleihen, ist der Mensch schon im Begriff, Gestalten zu sehen, ein Segelschiff, eine Hand, einen Elefanten. .

 

(1) Sämtliche Zitate sind dem Buch „Die unsichtbaren Städte“ von ltalo Calvino entnommen.

 

In: Blaupause, Städtisches Museum Mühlheim an der Ruhr, 1991

Archive