Christoph Asendorf




Licht - Raum - Modulationen
Über Kunstlicht und Architektur

Das Licht gehört in der Architektur zu den “weichen” Gestaltungsfaktoren, denen längst nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie beispielsweise den Fragen der Konstruktion gewidmet wird. Natürlich wissen Architekten um die grundlegende Bedeutung des Faktors Licht; Le Corbusier etwa schrieb: “Die Elemente der Architektur sind Licht und Schatten, Mauer und Raum.” (1) Durchmustert man aber Geschichte und Theorie der Architektur, so bildet sich dieses Beziehungsspiel nicht durchgängig ab. Natürlich wird über den Schattenwurf etwa antiker Säulenreihen gehandelt oder über das transzendierende Licht in gotischen Kathedralen. In besonderem Maß gilt der Barock als lichtbewusste Epoche, wurden doch hier nicht nur durch große Spiegelflächen spezifische: Raumwirkungen erzielt, sondern auch, bei Borromini beispielsweise, durch aufwendige und raffinierte Lichtführungen. Auch erzeugen die gekrümmten und geschwungenen Oberflächen dieser Architektur schon von sich aus ein reizvolles und abwechslungsreiches Bewegungsspiel des Lichtes.

Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein ist jedoch, wenn überhaupt, im Zusammenhang mit Architektur fast ausschließlich von natürlichem Licht die Rede. Mit der beginnenden Industrialisierung aber setzt eine Entwicklungsreihe von Verfahren zur künstlichen Beleuchtung ein, die weit über die historischen Öllampen und Wachskerzen hinausführen sollte. Enorm schnell verbreiteten sich insbesondere die Glühlampe, die Edison 1879 präsentierte, und später die Neonröhre; schon auf der Pariser Weltausstellung von 1900 wurde eine Art Apotheose des elektrischen Lichts geboten. Dass nun die Nacht gleichsam zum Tage gemacht werden konnte, wirkte sich nicht nur auf die allgemeinen Lebens- und Arbeitsformen, sondern natürlich auch auf Theorie und Praxis der Architektur aus. Mit Bruno Tauts Glaspavillon auf der Kölner Werkbundausstellung und den Lichteffekten, die Paul Scheerbart ebenfalls 1914 in seiner Schrift Glasarchitektur prognostizierte, schien die Zukunft eines bewussten Gestaltens auch mit künstlichem Licht begonnen zu haben.

Umso erstaunlicher ist es dann, dass etwa im Bauhaus, wo man ja über transparente Glasfassaden und Tageslichtführungen ausgiebig nachdachte, das elektrische Licht mit seinen besonderen Möglichkeiten für die räumliche Gestaltung zumindest in den ersten Jahren keine irgendwie bemerkenswerte Rolle spielt. Von glatten weißen Decken strahlte wenig zielgerichtet das grelle Licht nackter Lampen und Röhren. Auch die so genannten Bauhauslampen sind eher unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung der Produktion, und nicht unter dem der Verbesserung der Beleuchtungsqualität entstanden. Und in dem Büro, das sich Walter Gropius 1923 entwarf, bilden die röhrenartigen Lampen unter der Decke zwar eine aparte geometrische Struktur, im Alltagsbetrieb aber musste eine herkömmliche Schreibtischlampe die mangelhafte Beleuchtung verbessern. (2) Tatsächlich wurde der Terminus “Lichtarchitektur” nicht von Architekten, sondern von einem Naturwissenschaftler in die Debatte geworfen. Joachim Teichmüller verwendete ihn erstmalig 1926 in einer in Düsseldorf gezeigten Ausstellung des Lichttechnischen Institutes der Technischen Hochschule Karlsruhe und ein Jahr später in einem Aufsatz. Dabei geht er von der selbstverständlichen Erfahrung aus, dass bei jedem Bauwerk das Licht die Architektur gleichsam lesbar mache. Dies aber sei Architekturlicht. Lichtarchitektur könne erst dann entstehen, wenn “das Kunstlicht oder die Beleuchtung mit künstlichem Licht besondere architektonische Wirkungen hervorrufe, die gleichzeitig mit dem Licht entstehen und vergehen.” (3) Teichmüller erkennt im Licht einen “neuen Baustoff” (4), der eben nicht nur auch sonst Bestehendes sichtbar machen, sondern selbst gestalterisch eingesetzt werden kann. Künstliches Licht soll so von einem passiven in ein aktives und integrales Element von Architektur verwandelt werden.

Im Bauhaus dachte zunächst nur Lázló Moholy-Nagy, und keiner der Architekten, intensiver über die raumbildenden Qualitäten elektrischen Lichtes nach. In seinen Büchern, besonders im 1929 erschienenen Band Von Material zu Architektur, rekurrierte er mit zahlreichen fotografischen Abbildungen, die er oft von Presseagenturen bezog, immer wieder auf metropolitane Nachträume, deren Licht- und Bewegungsdynamik für ihn ein Inbegriff des modernen Raumes schlechthin war. Im selben Jahr baute er auch seinen “ Licht- Raum Modulator”, eine Konstruktion, die von einem Elektromotor in Rotation versetzt und von 75 (darunter einigen farbigen) Lampen in einem bestimmten Rhythmus beleuchtet wird. Die perforierten Metallscheiben, Gläser, ein Spiegel und noch einige andere Elemente werfen, zum Teil gegenläufig bewegt, Lichtreflexe und Schatten in den umgebenden Raum. Diese kinetische Skulptur kann als ein Simulator städtischer Lichtdynamik verstanden werden, als ein Instrument, um Lichtwirkungen im Raum zu erproben. Moholy-Nagy aber dachte an einen Medienverbund, mit dem es möglich würde, ephemere Lichträume an jedem beliebigen Ort zu erzeugen: Lichtspiele könnten durch Radio übertragen werden, in der Weise, dass die Empfänger Beleuchtungsapparate besitzen, die “von der Radiozentrale mit elektrisch regulierbaren Farbfiltern ferngelenkt werden”. (5) So wären, wenige Jahre vor der Einführung des Fernsehens, die Wände der Wohnzimmer zu Projektionsflächen abstrakter Licht- und Schattenspiele geworden.

Welche Rolle künstliches Licht als autonomes architektonisches Element tatsächlich spielen könnte, ist von keinem Architekten der klassischen Moderne so dauernd untersucht worden wie von Ludwig Mies der Rohe. Über vier Jahrzehnte finden sich Projekte, die auf ganz verschiedenen Ebenen die neuen Möglichkeiten durchspielen – ein oft unterschätzter Aspekt seines Werkes. Ein erstes und nicht realisiertes Projekt von 1928/2 das Kaufhaus Adam in Berlin hat noch expliziten Bezug zur Welt der Reklame. Sie erscheint hier allerdings nicht mehr in der Form horizontaler und die Fassade zerstückelnder Leuchtbänder, sondern so, dass die gesamte Fläche der Fassade mit einbezogen ist. Der Bau besteht aus einer Skelettkonstruktion mit einer vorgehängten und oberhalb des Erdgeschosses mattierten Glasfassade. Nur die einzelnen Etagen zeichnen sich noch als schlanke horizontale Linien ab. Tagsüber ergibt das innen ein mildes, gleichmäßiges Licht. Am Abend jedoch ist das Gebäude, so Mies van der Rohe an den Auftraggeber, „ein gewaltiger Lichtkörper und Sie sind in der Anbringung von Reklame ungehindert. Sie können machen, was Sie wollen, gleichviel, ob Sie darauf schreiben „Zur Sommerreise“, „Zum Wintersport“ oder „4 billige Tage“. Immer wird eine solche Leuchtschrift auf dem gleichmäßig erhellten Hintergrund eine märchenhafte Wirkung ergeben.” (6) Dieses Projekt wäre ein Vorläufer heutiger Medienfassaden geworden – ein ganzes Gebäude als Lichtkörper, auf dem Schriften erscheinen wie auf einem Bildschirm.

Im Barcelona-Pavillon von 1929 bildet Mies van der Rohe eine ganze Wand, Innen- und Außenseite, als Leuchtkörper aus. Diese Leuchtwand besteht aus Milchglasscheiben, zwischen denen sich Lichtelemente befinden. Doch nicht diese Elemente werden sichtbar, sondern die ganze Wand erscheint als homogen Leuchtende Fläche. Die Integrität der reinen Fläche wird bewahrt, die Wand wird nicht mehr beleuchtet, sondern leuchtet selbst. Mies van der Rohe verwandelte ein Mittel der Reklametechnik, die Großflächenleuchte, in Architektur. Die Leuchtwand steht gleichberechtigt neben den anderen Wänden aus Glas und Marmor. Zugleich aber ist sie in ihrer formalen Klarheit das komplexeste Bauelement, erfüllt sie doch drei Funktionen: tagsüber die des Fensters als Lichteinlass, nachts die einer Lichtquelle — und zudem ist sie undurchdringlicher Raumabschluss Die Wand wird multifunktional.

Bei dem 1958 vollendeten New Yorker Seagram Building wird Licht zum integralen Architekturelement. Hier ging es nicht einfach um Licht in den Büroräumen, sondern die Beleuchtung wurde von vornherein auf Wirkung auch nach außen ausgelegt, was neu war in der Bürohochhaus architektur. (7) Mies van der Rohe legte auf jeder Etage bis in eine Tiefe von vier Metern hinter den Fensterfronten einen Lichtring um das Gebäude. Das Ergebnis kann man auf älteren Photos (denn die Anlage wurde seit der Energiekrise von 1973 nicht mehr in Betrieb genommen) erkennen: Den Passanten wurde unabhängig von der tatsächlichen Nutzung der Räume und außerhalb der Arbeitszeit nicht nur der Eindruck einer einheitlichen Beleuchtung des ganzen Gebäudes geboten — die breiten Lichtringe scheinen darüber hinaus die einzelnen Geschossebenen zu übereinander schwebenden Lichtscheiben zu entmaterialisieren. So wird der Bau fast zu einer Lichtskulptur.

In einem seiner letzten Bauten perfektionierte Mies van der Rohe das System der auch schon im Seagram Building zum Einsatz gebrachten Leucht- bzw. Lichtdecke. Seit den Fünfzigerjahren war sie in den Bauten des Internationalen Stils üblich geworden, und zwar meist in Form einer abgehängten Unterdecke, ein Element also unabhängig von der statischen Struktur. Im Bankpavillon des Toronto-Dominion Centre von 1970 hingegen integriert Mies van der Rohe die Lichtdecke in das sichtbar gelassene tragende Stahlskelett. So bilden die Deckenkassetten mit ihren Lichtfeldern und die umlaufenden Stützen mit den zwischengehängten großen Glasflächen eine gestalterische Einheit. Auf Schwarz-Weiß-Fotos, die einen Blick durch die Halle in den Außenraum zeigen, hat die Lichtdecke in etwa die gleiche Helligkeit wie eine gegenüberliegende weiße Häuserfront im Tageslicht – der elektrisch beleuchtete Pavillon mit seiner vergleichsweise zart wirkenden Gitterstruktur erinnert hier von fern an den Londoner Kristallpalast, der einem Besucher als ein “Stück herausgeschnittener Atmosphäre“ (8) erschienen war.

Ganz anders sind die Beleuchtungtechniken bei der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Für die Bildwände im Untergeschoss kam das so genannte “Wallwashing” zum Einsatz: punktförmige Lichtquellen in der Decke erzeugen eine gleichmäßige Beleuchtung der Wandfläche, eine Technik, die hier, wie sich der Lichtplaner Hans v. Malotki erinnerte, erstmals in Deutschland angewendet wurde. (9) In der großen oberen Halle gab es “Downlighting” für die vertikalen Flächen, Licht aus in die Kassettendecke integrierten Lampen. Weiter wurde hier die, wie der merkwürdige Ausdruck lautet, “Darklight”-Technik eingeführt, um die große Stahldecke selbst zu erhellen: das Licht kommt von oben aus kaum sichtbaren Quellen, wird vom Granitboden reflektiert und beleuchtet so auf eine schwer greifbare Weise die Decke. Von innen gesehen, reflektieren die Glaswände den Museumsraum und lassen zugleich die bewegten Lichter der nächtlichen Stadt hereinscheinen. Wenn man aber nachts außen am beleuchteten Bau vorbeifährt, sieht man keine Glaswände mehr, sondern nur eine hell erleuchtete Bodenfläche und darüber sanft schimmernd den Deckenraster schweben.

Auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 errichtete Le Corbusier für die Firma Philips einen Pavillon mit sehr besonderen architektonischen Qualitäten. Im Innern sollte es eine Rauminszenierung mit wesentlich immateriellen Mitteln geben —eine Aufgabe, die Le Corbusier für sich umformulierte: “Ich werde keinen Philips-Pavillon bauen, sondern ein elektronisches Gedicht.” (10) Er entwarf ein Szenario, das die Geschichte der Menschheit in sieben Sequenzen erzählte. Die Realisation bestand aus projizierten Bildern, Farbprojektionen und der größtenteils elektronischen Musik Edgar Varèses. Hier wurde ein Raum mit sich ständig ändernden Eigenschaften erzeugt, der erst nach der Zufuhr elektrischer Energie in Erscheinung trat. Auch dieser Raum ist eine Art Lichtspielhaus, mit dem Unterschied aber, dass es nicht die eine Leinwand mit dem darauf ausgerichteten Publikum gibt, sondern dass die Besucher allseitig von den Projektionen umgeben sind, welche auch die Raumgrenzen markieren. Die spektakuläre äußere Hülle aus hyperbolischen Paraboloiden allerdings ist, bei aller Dynamik ihrer technoiden Formensprache, starr und ohne Verbindung zu den Erscheinungen innen.

 

Le Corbusier ist einerseits auf dem Weg zu einer Architektur  nur aus Licht und Klang und bleibt andererseits, bei der Außenseite, auf die gewohnte Weise architektonischer Formbildung bezogen. Den nächsten hier möglichen Schritt gingen dann die Planer von Las Vegas: sie errichteten besonders in den fünfziger und sechziger Jahren “dekorierte Schuppen” (Robert Venturi), architektonisch anspruchslose Hüllen für Spielcasinos etc., die sie aber innen und vor allem außen mit enormem Aufwand via Dekorationskunst und Lichttechnik in eine besondere Spielart von Architektur verwandelten. Als auf seine Weise bedeutsames kulturelles Phänomen wurde Las Vegas wohl zuerst von dem Schriftsteller Tom Wolfe beschrieben, der es Mitte der sechziger Jahre mit Versailles verglich. (11) Diesen Vergleich führte Reyner Banham weiter aus: Wo in Versailles “die Raumbegrenzung durch massive Konstruktionen” an erster Stelle steht, da sind diese in Las Vegas “das am wenigsten dominierende Element für die Definition des symbolischen Raumes”; hier geht es in der Hauptsache um “virtuelle Volumina”. (12) Der “Strip” von Las Vegas ist nachts ein Stadtraum fast nur aus Licht.

Heute deuten sich auch hinsichtlich der Lichttechnologien neue Möglichkeiten an: Leuchtdioden (LEDs, Light Emitting Diodes) werden nach mehreren Entwicklungssprüngen in den letzten Jahren bald zu vertretbaren Preisen zur Beleuchtung von Räumen oder Gebäuden eingesetzt werden. (13) Der Lichtingenieur Dieter Bartenbach schuf 2001 den ersten LED-beleuchteten Raum überhaupt: 14.000 computergesteuerte farbige und weiße Leuchtdioden ermöglichen es, die Farbtemperatur stufenlos zu ändern. Mit LEDs kann man nicht nur Licht, sondern auch Glas immer anders einfärben; so lassen sich transparente Besprechungszonen farbig abtrennen oder, über LED-bestückte Fenster, Räume in wechselnde Farben tauchen.

Von Seiten der Technik stehen hier also weitere Mittel bereit, dem ästhetischen Bedürfnis zur Artikulation von Übergängen, von nicht fixierten Zuständen Rechnung zu tragen, wie man sie in der Gegenwartsarchitektur auffällig häufig beobachten kann. So wie auf den Bildschirmen der Informationsgesellschaft die digitalen Objekte immateriell und manipulierbar sind, so bieten irisierende Oberflächen und schwer greifbare Raumbilder dem Auge eine veränderliche Erscheinung. Kontinuierlich arbeitet besonders der japanische Architekt Toyo Ito an gestalterischen Problemen dieser Art.

Er geht aus von einem Konzept der “two bodies”: Wie ein Mensch habe auch ein Gebäude zwei Körper, eine realen, der aus seiner materiellen Präsenz besteht, und einen fiktiven, dessen Umriss “durch die Information bestimmt wird, die an ihn gerichtet wird oder die er empfängt.” (14) In einer Gesellschaft, die von Informationssystemen durchdrungen ist, sind somit auch Gebäude zunehmend “Körper im Fluss”.

Seine Mediathek, die 2001 im japanischen Sendai eröffnet wurde, erscheint als ein solches Gebilde: Zwölf “Tubes”, filigran wirkende durchbrochene Stützen, leicht unregelmäßig geformt und angeordnet und durch alle Etagen laufend, tragen die einzelnen Ebenen des von einem Glasvorhang umgebenen Baus. Sie sind Tragwerk, Erschließungskerne und zugleich Energie- und Lichtversorger. Künstliche Beleuchtung macht den Bau transparent undzugleich zu einer veränderlichen Erscheinung farbigen Lichtes. “The media library appears to be immersed in fluid: water, Iight, information” (15) sie präsentiert sich wie körperlos, so als würde Licht den Datenstrom substituieren. Solche Bauten sind also nicht mehr über eine greifbare und festgelegte Form definiert, sie werden gleichsam polymorph.

 

Von all diesen Ansätzen sind solche künstlerischen Interventionen zu unterscheiden, bei denen gegebene Architekturen durch Licht in ihrer Erscheinung verändert werden. Wenn solche Eingriffe an für sich bedeutsamen Bauten vorgenommen werden, kann es zu spannungsvollen Dialogen zwischen dem ursprünglichen Architekturkonzept und dessen gleichsam lichttechnischer Interpretation kommen. Dies ist in besonderer Weise bei der Arbeit der Fall, die Jenny Holzer 2001 in Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie realisierte — eine Hommage an ihn in einem seiner eigenen Bauten. Unter der kassettierten Hallendecke brachte sie, allerdings nur  in einer Richtung, elektronische Laufbänder an, durch deren Leuchtdiodenbahneri in endloser Folge Texte fließen. Doch weitaus wichtiger als die Inhalte der Texte ist die räumliche Gesamtwirkung. Für den Betrachter, der in der leeren Halle steht, scheinen sich durch die Reflexion an den Glaswänden die Schriftzüge ins Unendliche fortzusetzen; bei Dunkelheit, wenn das schwarze Deckenquadrat und der Nachthimmel kaum mehr zu unterscheiden sind, hat er eine scheinbar grenzenlose, immaterielle Decke aus Lichtbahnen über sich. Mit dem hereinscheinenden Bild der nächtlichen Lichter außen und den vielfältigen Reflexionen besonders an den inneren Gebäudeecken entsteht ein integraler Lichtraum, in dem sich das Museum und die um es zirkulierende Großstadt zu durchdringen scheinen. Holzer hatte den Mies van der Rohe Bau wochenlang umkreist (l6), sich sogar in einem nahen Hotel einquartiert, um alle seine Eigenschaften zu studieren und sie schließlich durch ihre Arbeit auf eine bisher nie gesehene Weise zur Erscheinung zu bringen. Derartige Dialoge sind insgesamt selten; einen vielfach variierten Typus hingegen bilden Interventionen jener Art, wie sie etwa Dan Flavin seit den 1960er Jahren ausgebildet hat: durch fluoreszierende Neonröhren, die sichtbar oder unsichtbar angebracht sind, also direkt oder indirekt leuchten, Nischen, Fenster, Durchgänge oder Fassaden zu illuminieren. Das Konzept lässt sich in Innenräumen so gut wie außen umsetzen; für den Hamburger Bahnhof in Berlin entwarf Flavin eine große Installation, die Gebäudeteile verklammert, den Innen- und Außenraum verschränkt und noch auf große Distanz den Bau markiert. Diese Arbeit, gebunden an architektonische Vorgaben, die sie überspielt, erzeugt am gegebenen Objekt eine Lichtstimmung eigenen Rechts.

Einen dritten Typus des lichtkünstlerischen Umgangs mit Gebäuden bzw. Stadträumen repräsentieren einige Arbeiten Mischa Kuballs. Hier geht starkes Licht von den Objekten aus und stößt gleichsam dem Betrachter zu. So wird, nachdem er an die Grenze zur Desorientierung gebracht ist, dessen Aufmerksamkeit sich auf den Quellpunkt der Irritation richten. Kuball benutzt dabei verschiedene 52 Techniken. Aus dem Innern der von der Straße abgelegenen Synagoge Stommeln (refraction house, 1994) strahlten überstarke Lampen so in die Umgebung, dass diese auch nahezu unheimliche Weise ausgeleuchtet erschien; da Licht exponierte so prekär wie sinnfällig das Verhältnis der Synagoge zu ihrer Nachbarschaft.

 

Bei der Arbeit FlashBoxOldenburg hingegen wird der Stadtraum nicht, wie üblich, nur durch das sanfte Licht der Straßenlaternen erhellt, sondern auch durch an zahlreichen Gebäuden angebrachte Blitzlichter. Dabei kommen im Stadtraum schwache, in den zum Projekt gehörige Innenräumen des Oldenburger Kunstvereins und des Edith Ruß-Hauses für Medienkunst sehr viel stärkere stroboskopisch blinkende Lampen zum Einsatz. Lichtblitz-Stroboskop sind ein starkes Leuchtmittel, das den verschiedenste Zwecken dienstbar gemacht werden kann; man kann zur Beobachtung von Bewegungsvorgängen einsetzen, zu Musik beim Tanz in Diskotheken 8 oder auch als Waff Dies jedenfalls ist die Idee der Glühbirne “Byron”, die Thomas Pynchon in seinem Roman Gravity’s Rainbow mit menschlicher Phantasie ausstattete: “Byron hat eine Vision gehabt ...  von zwanzig Millionen Glühbirnen in ganz Europa die auf das Signal eines seiner Agenten im Netz hin begänne alle synchron stroboskopisch zu blitzen, bis die Menschen zwanzig Millionen Zimmern zuckend um sich schlügen wie Fische auf den Stränden der vollkommenen Energie”. (17) Doch Byrons Absicht, mit der “ Stroboskop-Taktik” epileptische Anfälle auszulösen, verhält sich zu Kuballs Arbeit wie ein Akt der Blendung zu einem der Aufklärung: Das Experiment FlashBoxOldenburg nämlich soll die Aufmerksamkeit der Bürger für ihren Stadtraum vorübergehend ndere als die gewohnten Zusammenhänge richten.

 

Anmerkungen

[1] Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, Braunschweig 1982, S. 23.

2 Reyner, Banham, Die Architektur der wohl-temperierten Umwelt, in: Arch+93, 1988, S.49ff.

3 Hans T. v. Malotki, Auf dem Wege zur Lichtarchitektur, in: Daidalos 27/1988, 5. 70.

4 Joachim Teichmüller, Lichtarchitektur in: Licht und Lampe, 13/14, 1927, Sonderdruck. Vgl.

Werner Dechslin, Lichtarchitektur, in: Kot. Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis

1950 . Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Hg. Vittorio M. Lompugnanai na., Stuttgart

1994, 5. 117ff

5 László Moholy-Nagy, Lichtrequisit einer elektrischen Bühne; ders., Lichtspiel -Film, beide

Texte in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, Weingarten 1986. 5. 328ff.

6 Mies van der Rohe, Briefentw. v. 2.7.1928, im Anhang von: Fritz Neumeyer, Mies von der

Rohe Das kunstlose Wort, Berlin 1986, 5. 368.

7 Jürgen Joedicke, Bürobauten, Stuttgart 1959, 5. 154ff, 142ft Wolfgang Schivelbusch, Licht,

Schein und Wahn, Berlin 1992, 5. 7, io6; zu Details siehe: Lighting is Architecture, in:

Progressive Architecture, Sept. 1958, 5. 139ff

8 Richard Lurae 1869. 5. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. München/

Wien 1977, 5. 47.

9 Hans T. v. Malotki, Lichtarchitektur, siehe Anm. 3, 5. 78, 82.

10 Le Corbusier, Le poème électronique, Eindhoven 1958, 5. 23.

11 Tom Wolfe, Das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby, Reinbek 1968,

S. 12f, 20f.

12  Banham, Wohl-temperierte Umwelt, siehe Anm. 2, 5. 84.

13 deutsche bauzeitung 01/2001: Bauen mit Licht: Christian Weber, Ein Himmel unters Doch,

in: Focus 49/2001, 5. 148ff.

14 Toya ito in: Architecture New York, September 1994; vgl. Martin Pawley, Architektur im

Kampf gegen die neuen Medien, in: Kunstforum 133, 1996, 5. 215.

° Luigi Prestinenza Puglisi, Hyper Architecture . Spaces in the Electronic Age, Basel 1999,

S. 23; vgL Arch+148/1999, S. 36ff.

16  Nicola Kuhn, Die Lichtzeichnerin, in: Der Tagesspiegel 3.2.2002: Ulrich Clewing, In

Zukunft immer nur nachts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Berliner Seiten) 6.2.01.

17 Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel (Gravitys Rainbow), Reinbek 1981, S. 1014.

Vgl. zu Stroboskop-Licht und optischer Reflexepilepsie: Arthur Janov, Anatomie der

Neurose, Frankfurt 1976, S. 232 und Albert Kreis, Reflexepilepsie, Zürich 1968 (Inaugual-

Dissertation), bes. S. 9f, 17, 21.




In: FlashBoxOldenburg: Mischa Kuball, ed.: Edith-Ruß-Haus für Medienkunst und Oldenburger Kunstverein
Isensee Verlag, Oldenburg 2005, p. 47-61.

© all rights reserved by the author.