Eine mit unzähligen Spiegelsteinchen mosaizierte Kugel dreht sich unablässig im Raum. Eine Buch-
stabenfolge, die das Wort „perguntar“ (fragen) bilden, wird auf die gekrümmte Oberfläche der
Kugel projiziert, von der sie – in sich gebrochen und fragmentiert – als Lichtreflexe auf die Wände
des dunklen Raumes geworfen werden. Die Buchstaben huschen wie fremdes Gelichter über die
Wände, zerdehnt, gekrümmt, aus dem Wortzusammenhang isoliert, tauchen sie auf und unter –
ein geheimnisvolles Menetekel, das im Raume schwebt. Unentzifferbare Niederschrift eines Zusam-
menhangs, der nicht Gestalt annimmt, sondern dessen Form Bewegung ist.
Hermetisch in sich kreisende Reflektion, zerstreute Reflexe, die Form auflösen, Sinn zersetzen und
doch im Fragment die Ahnung eines neuen kosmischen Zusammenhangs aufscheinen lassen:
mutierender Tanz disparater Elemente, reine Bewegung des in sich gekrümmten Raums auf der
Grenze zur Unendlichkeit.
Und wenn sich alles aufzulösen scheint und jeglicher Zusammenhalt vergangen, dann gibt es kein
Zurück mehr, kein Innen und kein Außen, keine Frage mehr und keine Antwort, sondern nur noch
fragloses Fragen am Rande des Horizonts, das noch im Fragen die Fragwürdigkeit der Frage in Frau-
ge stellt.
War es Schelling, der die Theorie aufgestellt hat, daß die hebräischen Schriftzeichen als Notationen
zu lesen sind – Notationen, die die Bewegung und Position der Zunge in der Mundhöhle nachzeichnen,
die den Atem formen, der den Laut hervorbringt, für den das Zeichen steht?
Es heißt, diese Theorie sei falsch.
Und doch: der tänzerische Zungenschlag, der Klang, halb Körper und halb nicht, eingeschrieben im
Raum wie im Verlauf der Linie, Bewegung, stillgestellt in der Form, verborgen in der Schrift, lautlos
im Zeichen verstummt – das ist auch Metapher für einen möglichen – nicht faktischen oder fiktiven –
Zusammenhang von Körper und Nicht-Körper, Laut und Bedeutung, Form und Bewegung, einem
Zusammenklang, der jenseits des Sinnzusammenhangs von Schrift und Sprache, Bewegung und
Form, in ihrer Auflösung neue Symbiosen aufscheinen läßt, in denen das eine, immer auch das
andere meint, ohne es zu sein, nie bei sich ist und nie woanders, immer dazwischen.
Zerfall und Zufall – sonderbare Mitte ohne Ort, in sich verknäult, Mitte, die, indem sie aus sich
selbst heraustritt, in sich kollabiert.
Die Sprache nennt willkürlich, was im Sturz der in sich kollabierenden Bilder, Formen, Systeme und
Bedeutungen unwillkürlich ist und so gewiß wie nur die Wilkür der Evidenz.
Selbstvergessen wie im Traum krümmt sich der Raum, unerhört nah und unsagbar fern, dimen-
sionslos, in sich versprengt, Grenze und Überschreitung in einem, Raum – ein Fragment, das alles in
sich birgt, ohne damit identisch zu sein, ebensowenig wie mit sich selbst, sich von sich selbst ent-
fernt, trunken im Taumel, am Abgrund – auf dem Gipfel der Verzweiflung, im Ursprung – sprachlo-
se Euphorie im Schweigen verstummt, kein Ausdruck Artikulation – ohne Form, ohne Antwort – fragen.
In: Mischa Kuball/ Karin Stempel: fragen / perguntar / asking; Material ( Immaterial, Düsseldorf 1997.
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