Uli Bohnen

„Zur Kenntlichkeit verändert"1 – Der "Deutsche Pavillon"

 

 

„Schräg ist heroisch“, meinte einmal der Maler Otto Coenen (1907-1971)2, und er kommentierte damit, in einer zum Spott abgeklärten Besorgnis, die mehr oder weniger gutgemeinte Vorliebe sozial engagierter Künstler für die Darstellung von emotional aufgeladenen sozialen Situationen durch schräge Positionierung der Helden bzw. der zu allem entschlossenen Menschenmenge; man denke an Käthe Koliwitz, an El Lissitzky, Rodchenko und Dejneka, an Elk Eber, Paul Padua und Arno Breker. Die Tradition dauert an (nicht nur auf Sportplakaten), und geographisch wie historisch gibt es da keinen nennenswerten Unterschied.

 

Wohl gibt es einen Kipp-Punkt. Von der Möglichkeit des bildnerischen Zitats in persiflierender Absicht abgesehen, wo man beispielsweise den Bildträger in entgegengesetzter Richtung schief hängen und damit das eigentlich diagonale Motiv in die Vertikale versetzen könnte, kann man die Schräge auch übertreiben und derartig verzeichnen, daß ein Übergang vom Heroischen, wie Coenen es nannte, zum Eindruck eines nicht mehr aufzuhaltenden Sturzes erzielt wird. Solche bildnerischen Finessen pflegt man, solange sie sich noch diesseits der Grenze zur Karikatur bewegen, als Manierismen zu bezeichnen; am ausgeprägtesten begegnen sie uns in Anamorphosen.

 

Es obliegt dem Betrachter, zuweilen unter Verwendung optischer Hilfsmittel, Wahrnehmungskorrekturen durchzuführen, die das Betrachtete in eine Konkordanz mit den herrschenden Erkennungskonventionen zurückbefördern. 3)

 

Mischa Kuball macht vom Mittel der Verzerrung Gebrauch, wenn er 81 Dia-Projektionen, die einander in seinem Objekt „Deutscher Pavillon“ ablösen, allzu schräg auftreffen läßt. Darüber später mehr.

 

In der griechischen Tempel-Architektur gibt es Säulen, deren Umfang nach oben so zunimmt, daß sich beim Betrachter der Eindruck einer Verjüngung nicht einstellt. Ein anderes Beispiel: Die Kette des „Barbarossa-Leuchters“ aus dem 12. Jahrhundert, der im Oktogon des Aachener Münsters von der Decke hängt, scheint ebenfalls parallele Konturen zu haben, weil ihre Glieder von oben nach unten schmaler werden.

 

Sollte damit vielleicht frühen Vorformen eines renaissancehaft-perspektivischen Sehens entgegengewirkt worden sein? – Wie umgekehrt zu schließen wäre, daß der jeweilige historische Grad an Diesseits-Orientierung eine so große soziale Verbreitung erlangt hatte, daß ohne sie der Versuch kaum unternommen worden wäre, ihm in dieser Weise entgegenzuwirken. 4)

 

Es ist seltsam: Obwohl Albert Speer, der Konstrukteur des „Deutschen Pavillons“ auf der Pariser Weltausstellung 1937, von den Mitteln des „illusionistischen Anti-Illusionismus“ keinen Gebrauch gemacht hat, wie sie am Beispiel der griechischen Säulen und der Kette des „Barbarossa-Leuchters“ beschrieben wurden, rufen die Reproduktionen, die vom „Deutschen Pavillon“ oder von seinem legendären „Lichtdom“ aus dem Jahr 1934 überliefert sind, nicht den Eindruck hervor, daß die Parallelen sich – der säkularisierten Ungeduld entsprechend, mit der man den messianischen Heros im Hier und Jetzt haben wollte – im Endlichen schneiden. Die Erklärung dafür dürfte jedoch ausschließlich in der photographischen Großbildtechnik zu suchen sein 5),während das vom Sinnlichen zur „intuitiven Unmittelbarkeit“ verkürzte Erlebnis, auf das es bei derartigen Spektakeln ankam, ein ganz anderes gewesen sein dürfte; die Säulen wiesen eben doch gebündelt auf den krönenden Adler – entworfen von einem Kurt Schmid Ehmen.

 

Durch optische Verzeichnungen verändert Mischa Kuball den mißverständlichen Eindruck, den wir heute bei Betrachtung der Reproduktionen bekommen, zur Kenntlichkeit. In der Übertreibung persifliert er den im Endlichen avisierten Kontakt zum „Göttlichen“‚ den jene Architektur suggerierte, und setzt den darin angelegten propagandistischen Kurzschluß einer Re-Vision aus. 6)

 

In eigenen Notizen stellt Kuball einen Vergleich zwischen den von ihm bewerkstelligten Wirkungen und den exzeptionellen Situationen her, die auf der Bühne des Theaters herbeigeführt werden können, um den Zuschauer in eine das Erkennen fördernde Distanz zu versetzen. Man lese, was Bertolt Brecht über seine Stücke und was wiederum Walter Benjamin über Brecht geschrieben hat! Bereits in Schillers Vorrede zur „Braut von Messina“ findet sich der aufklärerisch intentionierte Umgang mit dem expliziert, was später als „Verfremdungseffekt“ (oder kurz: „V-Effekt“) in die Literaturgeschichte eingehen sollte: Der Betrachter wird mit emotional aufgeladenen bzw. aufladenden Situationen konfrontiert und da, wo die Gefühle überhand zu nehmen beginnen, durch eine unerwartete Wendung oder Unterbrechung der Handlung aus dem ldentifikationsprozeß, dem er sich zuvor anbequemt hatte, herausgerissen und in Distanz zum Geschehen versetzt. Benjamin spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Chok-Effekt“. 7)

 

Hier allerdings bedarf es einiger genauerer Beobachtungen, um möglichen Trugschlüssen aus dem Weg zu gehen – Trugschlüssen, zu deren Vermeidung – wie noch deutlich werden soll – Kuballs Objekt auf seine spezifisch bildnerische Weise beizutragen vermag. Dazu ein kleiner Exkurs.

 

Es ist angebracht, dem Begriff von „Rationalität“, der aus dem letztlich aufklärerischen Impuls von Schiller bis Brecht und Benjamin herausdestilliert werden kann, mit Vorsicht zu

begegnen. Spätestens seit Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ (1944) kann das Verhältnis zu einem emphatischen Vernunftbegriff kein naiv-positives mehr sein. Damit wird aber auch der Begriff des „Metaphysischen“ und das Emotionale, als eine seiner subjektiv- oder massenhaft-intuitiven Erlebnisformen, einer erneuten Betrachtung wert. 8)

 

Gerade Walter Benjamin, der 1931 geschrieben hatte, daß er „nie anders forschen und denken [konnte] als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn – nämlich in Gemäßheit der talmudischen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle“, neigte in seinen bis heute meistdiskutierten Essays aus der Mitte der Dreißiger Jahre zu einer nahezu sozialdemokratischen Überschätzung dessen, was wir mit Rationalität (und

deren wachsender Verwirklichung in einem Fortschrittsprozeß) zu identifizieren pflegen. 9) Diese Phase seines Werkes ist zweifellos mit der sogenannten Volksfront-Politik in Verbindung zu bringen, als, angesichts der Etablierung faschistischer Gewaltherrschaften in Europa, die kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien 1935 – nach langen Jahren gegenseitiger Feindschaft – den gemeinsamen Kampf gegen die westeuropäischen totalitären Bewegungen proklamierten. 10) In diese Zeit gehört – Duplizität der Ereignisse – auch Speers „Deutscher Pavillon“, der 1937 in Paris errichtet wurde.

 

Ihm gegenüber prangte, entworfen von Boris Jofan, der „Russische Pavillon“ – auch er gekrönt von einer Skulptur: Arbeiter und Bäuerin in einer balletthaft-beschwingten (schrägen!) Pose; mit aufwärts gerecktem Arm führen sie Hammer und Sichel zu dem bekannten Emblem zusammen.

 

Speer und Jofan erhielten damals je eine Goldene Medaille für „außergewöhnliche architektonische Leistungen“. Es ist heute schwer zu beurteilen, ob diese Auszeichnung aus politisch motivierten taktischen Erwägungen vergeben wurde oder weil die sinnliche Präsenz dieser Bauwerke so imponierend war oder weil sie sich einem so avancierten technischen know how verdankten. Unabhängig davon, ob es eine eindeutige, geschichtswissenschaftlich fundierte Antwort auf diese Frage gibt, läßt ein Vergleich zwischen beiden Bauwerken etwas aufscheinen, was erst recht bei Betrachtung der damaligen italienischen, französischen oder gar New Yorker Architektur evident wird und sich – beiläufig bemerkt – weit über die baulichen Manifestationen der französischen Revolution (man denke etwa an Boulleé und Ledoux) hinaus zurückverfolgen läßt: Es gibt keine „faschistische“ oder „nationalsozialistische“ Architektur. 11 )

 

Wohl gilt, was fast immer dann auftritt, wenn neue Materialien zur Anwendung kommen: sie werden ins Gewand konventioneller Formen gekleidet. 12) Daß – vor allem dank „Bauhaus“ und „de Still“ – ein kurzes, äußerlich sehr andersartiges Zwischenspiel von epochaler Signifikanz vorausgegangen war, soll keineswegs ignoriert werden, bedeutet jedoch eine Verkomplizierung unserer Überlegungen, auf die noch da einzugehen sein wird, wo die Widersprüche, um die es hier geht, deutlichere Konturen angenommen haben.

 

Wenn Walter Benjamin 1934 in seinem Vortrag „Der Autor als Produzent“ behauptete,

die „Technik [stelle] den dialektischen Ansatzpunkt dar, von dem aus der unfruchtbare Gegensatz von Form und Inhalt zu überwinden“ sei, dann bewegte er sich auf einem sehr fragwürdigen argumentativen Terrain; etwa ein Jahr später baute er seinen Ansatz aus, als er die „technische Reproduzierbarkeit“ als eine Möglichkeit ausgab, mit deren Hilfe die

„Verarbeitung des Tatsachenmaterials im faschistischen Sinn“ zu unterlaufen sei.13)

 

Vorübergehend von der aufs Emotionale zielenden Beeindruckungsstratie je der Nazis geblendet, zugleich blind für die russischen Parallelen (und in beidem vergleichbar mit

Lukács), sah er nicht, daß die Nazis in Deutschland wie die „Arbeiter der Stirn“ in Russland eine Situation herbeiführten, da „die Leistungsfähigkeit von der Hemmung durch das Gewissen entbunden“ wurde (Otto Coenen) und hinter der mythologisierenden Fassade massenwirksamer Imposanz auf neoklassizistisch-akademischer Formbasis die technische Rationalität, die „instrumentelle Vernunft“, wie Horkheimer es nannte, nie gekannte Erfolge feierte. 14)

 

Wenn Mischa Kuball in seinen schriftlich fixierten Reflexionen die Frage aufwirft, ob die in seiner Diafolge suggerierte „Kontinuität in Sachen Leistungsschau“ mit einer „Kontinuität

(Linearität) der Geschichte“ gleichbedeutend sei, so ist das eine verbale Fassung dessen, was er visuell vergegenwärtigt. Neben dem „Deutschen Pavillon“ begegnen uns in seiner Arbeit Bauten von van de Velde, Mendelsohn, Gropius, Meyer, Mies van der Rohe, Le Corbusier, Wilhelm Kreis 15), aber auch anonyme Manifestationen der Architektur und Innenarchitektur seit der Jahrhundertwende – darunter Schulen, Museen, Fabriken, Bürogebäude, Wohnhäuser, Treppenkonstruktionen und Interieurs.

 

Wenn heute, von sogenannt postmodernen Positionen aus, die lineare Geschichtsauffassung als ein seit Hegel über Marx bis hin zum zeitgenössischen Fortschrittsfetischismus beobachtbares Verhängnis dargestellt wird 16), dann bedeutet der von Mischa Kuball praktizierte Rekurs auf Überlegungen, die sich noch von einem Fragezeichen leiten lassen, ein wohltuendes Innehatten zugunsten notwendiger Gründlichkeit. Denn es gab und gibt ja auch Gegenpositionen. Man denke an den Traktat des Dadaisten Hugo Ball, „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ von 1919; in dieser Arbeit, die später unter dem zutreffenderen Titel „Die Folgen der Reformation“ neu herausgegeben wurde, stellte Ball die (deutsche) Geschichte von Luther bis zum Ersten Weltkrieg als kontinuierliche Realisationsform eines Volkscharakters dar, den man als hybrides Produkt einer säkularisierten Irrationalität bezeichnen könnte. 17)

 

Daß Hugo Ball die in Thomas Münzer personifizierte und mit Luthers propagandistischer Unterstützung niedergeschlagene Gewalt der aufständischen Bauern 1524/25 als letzte Chance einer metaphysisch fundierten Alternative zur deutschen Geschichte seit der Reformation angesehen hat, wird ein wenig relativiert durch die interessante Tatsache, dass Ball, der kurz darauf den Rückweg in die katholische Kirche antrat, etwa zur gleichen Zeit an einem auf zwei Bände angelegten Werk über den aus Rußland stammenden Anarchisten Michail Bakunin (1814-1876) gearbeitet hat – einem Projekt, das nie zur Veröffentlichung gelangte, vielleicht auch nie fertig gestellt wurde. 18)

Immerhin läßt sich – und das hat Ball deutlich bemerkt – sehr wohl eine Tradition achtbarer Irrationalität und eines Verhaltens zu Geschichte rekonstruieren, das nicht einer geradlinig-rationalen Fortschrittsgläubigkeit gehorcht, sondern – analog zur unvorhersehbaren Ankunft des Messias (sei es der ersten oder zweiten) – die Durchbrechung des Geschichtskontinuums impliziert und von Fall zu Fall praktiziert hat; in diese Tradition gehören Thomas Münzer und die aufständischen Bauern, aber auch Bakunin, der bedeutendste Gegenspieler von Karl Marx und seinen sozialdemokratischen Ablegern. 19)

 

Wir kommen nicht umhin, Balls Diagnose ernst zu nehmen, denn wir finden die säkularisierte Irrationalität bzw. die irrationale Säkularisation sowohl im Nationalsozialismus als auch im Stalinismus – und in dem wieder, was wir als „künstlerische Moderne“ zu bezeichnen pflegen.

 

„Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen“ (Hitler) – das bedeutete, unausweichlich: „Arbeit

für alle“ (und wie!), basierend auf „Kameradschaft“ und „Treue“. Da wurden Messianismus, Produktivität und eine geradezu metaphysisch beschworene menschliche Nähe in einer Weise zusammengeführt, die Emotionalität und Rationalität zu versöhnen versprach. Weniger geschickt vielleicht, aber kaum weniger effektvoll, wurden in Rußland, einem Land mit relativ kleinem Arbeiteranteil, aber unverhältnismäßig zahlreicher Bauernschaft, „proletarische“ Solidarität und Produktionseffizienz unter der geschichtsvollendenden Leitfigur Stalin synthetisiert — oder kurz und zutreffender: das Land wurde in einer gewaltigen Anstrengung proletarisiert.

 

In beiden Fällen: der abgekürzte und für alle, bei Strafe, verbindliche Weg in ein Kombinat aus rationaler Einsicht und emotionaler Erfüllung. „Es gibt zwei Möglichkeiten, den Sozialismus zu verhindern – entweder man sagt, er komme nie, oder man sagt, er sei schon da“.20) Der Sozialismus in je einem Land, das war, als contradictio in adjecto, das ganze Geheimnis und zugleich eine Banalität – hier wie dort. Metaphysik, verhackstückt und konsumierbar gemacht in Portiönchen, die alles muffig Althergebrachte: Kleinheit, Kleinlichkeit, Familie und Spießertum mit völkischem Heiligenschein vergoldeten, wurde einerseits in den Plural isoliert empfundener Glücksgefühle zerlegt und andererseits fürs geradezu sakrale Kriegserlebnis synthetisch („naturidentisch“) wieder zusammengefügt. Nicht ohne Prophetie hatte lsaak Babel gesagt: „Die Banalität ist die Konterrevolution“.

 

Wenn zuvor schon angedeutet wurde, dass die Avantgarde der bildenden Kunst in den ersten drei Dezennien unseres Jahrhunderts, bezogen auf ihr Verhältnis zur technischen Rationalität und zum linearhistorischen Fortschrittsglauben, nicht frei war von Momenten,

die in den Totalitarismen, als mehr oder weniger „getarnte Moderne“ 21), fortgeführt und ausgebaut werden sollten, dann ist das eine zwar ernüchternde Diagnose, die Mischa Kuball mit seinem Objekt unerbittlich und folgerichtig bis in unsere Gegenwart verlängert, aber es ist

auch eine Diagnose, die zu genauerer Betrachtung auffordert und um so insistierender die Frage unterstreicht, ob denn – und sei es nur in den kurzen Phasen der Revolte oder in theoretischen Äußerungen – keine fundamentalen Alternativen formuliert wurden, die für heutige Diskussionen von Belang sein könnten.

 

Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Feststellung, daß viele Künstler der Moderne ein Verständnis von Architektur kultivieren, das im verklärten Rückblick auf die Epoche der mittelalterlichen Kathedralen und der mit ihnen identifizierten Gesellschaften gewachsen war; „Die Gemeinschaft“, „Der Bau“, ja, „Kathedrale des Sozialismus“ – damit verbanden sich Vorstellungen, die man praktisch umzusetzen und mit Leben füllen zu können hoffte, als der Erste Weltkrieg in Revolten und Revolution umschlug. 22) Die Architektur ist jedoch, im Unterschied etwa zur Malerei, Plastik oder Dichtung, eine angewandte Kunst, die in einem unmittelbar-praktischen Verhältnis zu technischen Realitäten steht. Wenn man also untersuchen will, inwieweit Projekte ersonnen wurden, die nicht utilitaristisch „korrumpierbar“ waren, dann wird man sich mit Modellen beschäftigen müssen, die nicht verwirklicht wurden, und man wird nicht daran vorbeikommen, sich auf Theorien einzulassen, die nicht nur übers damals technisch Realisierbare hinausgingen, sondern geradezu unabhängig von Fragen der praktischen Umsetzbarkeit entwickelt wurden. Soviel sei versprochen: Bei Paul Scheerbart, Bruno Taut, Kasimir Malevich und Otto Freundlich wird man fündig werden! 23)

Allerdings ist anzunehmen, daß die Quantität und Qualität diskussionswürdiger Alternativen selbst dann nicht viel bedeutender wird, wenn man in Rechnung stellt, daß Entwürfe zu Unrealisiertem schwerer auffindbar sind als Zeugnisse baulicher Realisationen.

 

Aber auch im Bereich der freien Künste sieht es kaum anders aus. In den konstruktivistischen Strömungen der bildenden Kunst, die aus der Kritik am subjektivistischen Selbstverständnis der Expressionisten und als begleitende Phänomene der soziaIrevolutionären Zusammenschlüsse von Rußland bis Holland zugleich entstanden, machte sich sehr bald die gleiche innere Widersprüchlichkeit aus metaphysischem Anspruch und fortschrittsgläubiger Praxisorientiertheit geltend, mit der Nationalsozialisten und Stalinisten wenig später taktisch brillant jonglieren sollten. Die Destruktion ließ sich nicht dauerhaft in Konstruktion überführen.

 

Von wenigen Ausnahmen – auch hier sind wieder Malevich und Freundlich zu nennen – abgesehen, waren die Dadaisten die einzigen, die sich dem historischen Paradox gewachsen zeigten: indem sie sich dem Geschichtsverlauf fügten und, kunsthistorisch betrachtet, ab etwa 1922 von der Bildfläche verschwanden, erwies sich ihre Gesinnung als unkorrumpierbar und fähig, von Revolte zu Revolte zu überwintern – jederzeit abrufbar zur radikalen Durchbrechung historischer Linearität. Im Vergleich dazu mutet die Erfindung beleuchteter Verkehrsschilder, wie wir sie dem Konstruktivisten Walter Dexel verdanken, natürlich jämmerlich an. Aber auch dem Bauhaus nahe Initiativen wie das Entwerfen von „Wohnungen für das Existenzminimum“ atmen schon den Ungeist von „Kraft durch Freude“.

 

Als James Broh, Verteidiger des vogtländischen Guerilleros Max Hoelz und, neben Franz Pfemfert und Otto Rühle, einer der glänzendsten Theoretiker des linken Radikalismus im Zwischenkriegs-Deutschland, 1923 einen Aufsatz mit dem Titel „Der rote Faschismus“ veröffentlichte, knüpfte er nicht nur an die anarchistische Tradition von Bakunin bis Gustav Landauer an, sondern er setzte eine Begriffskombination in die Welt, die, bis sie nach 1945 als „Rot=Braun“ eine ganz andere politische Bedeutung erhalten sollte, die konkrete Affinität der sich damals abzeichnenden Totalitarismen zueinander ungemein frühzeitig brandmarkte. 24) Parallel zu derartigen politischen Kritiken, die jedweder staatlichen (und damit hierarchischen) Organisationsform Modelle regionaler Autonomie entgegensetzten und ihren Ausdruck in der auf Herrschaftsfreiheit zielenden Forderung „Vom Regionalismus zum Internationalismus“ fanden, bieten die – z.B. auf Peter Kropotkin zurückgehenden – ökologischen und sozialpsychologisch argumentierenden Manifeste und Polemiken Otto Freundlichs aus derselben Zeit 25) eine wertvolle Handhabe, um die von Mischa Kuball zusammengetragenen Monstrositäten noch unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten als dem des unauflösbar scheinenden Widerspruchs von technischer Rationalität und emotionalen Bedürfnissen. 26) Dann allerdings geht es nicht mehr nur um eine grundsätzliche Revision, sondern um Revolution im irdischen Maßstab. (Otto Freundlich sorgte sich gar um die Bedingungen eines „kosmischen Kommunismus“!)

 

Es gilt zu erkennen, daß die ökonomischen und ökologischen, sozialen und psychischen Zwangsverhältnisse, basierend auf staatlichen und wirtschaftlichen Mega-Organisationen, sowohl die technologischen als auch die emotionalen Strukturen der Menschen weitgehend bedingen und damit den architektonischen Kleinformen, dem Städtebau und den Siedlungsformen weltweit ihren Stempel aufdrücken – und zwar mit wachsender Tendenz, wenn auch nicht unbeeinträchtigt von wachsenden menschlichen Gegeninterventionen.

 

Kunst, die darauf angelegt ist, mit dem Betrachter eine so weitreichende Korrespondenz aufzunehmen, transportiert Widersprüche: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno). Aber durch diese hindurch bietet sie Transparenz wie ein Kirchenfenster, das von außen dunkel ist, demjenigen jedoch, der sich hinein begibt, leuchtet.

1) Es war Ernst Bloch, der, in einer überraschenden Abweichung von der üblichen Formulierung, einmal die Frage aufwarf, ob sich „der Sozialismus in Rußland zur Unkenntlichkeit oder zur Kenntlichkeit verändert“ habe.

2) Ausstellungskatalog „Otto Coenen – Leben und Werk“, Köln 1983

3) In Anlehnung an Gustav René Hocke wird hier der Begriff „Manierismus“ im Plural gebraucht; vgl. G.R. Hocke, Die Welt als Labyrinth – Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1957; ferner: Ausstellungskatalog „Anamorfosen – spel met perspectief“, Paris/Amsterdam/Köln 1975

4) Neben dem Hinweis auf Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“ (in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1964) hier eine kurze Reflexion von Otto Freundlich; in den Dreißiger Jahren notierte er: „Die Perspektive der Renaissance ist die in die Horizontale gelangte Vertikale der Gotik. Es war damit eine Lösung gefunden, die das Himmlische mit dem Irdischen verbindet. (...) Allerdings war in dieser Lösung schon die Auflösung. Denn gerade durch die geometrische Sicherheit, mit der die Illusion der Ferne erweckt wurde, mit der jedes Objekt, jeder Mensch als ‘richtig‘ an seinem Platz identifiziert werden konnte, wurde das geistige Erlebnis vernichtet und die von ihm abstrahierte ‘Wirklichkeit‘ an seine Stelle gesetzt.“ In: Uli Bohnen (Hrsg.), Otto Freundlich – Schriften, Köln 1982, 5. 251. Als alternative Form, dem zentralperspektivischen Sehen mit selber hochgradig illusionistischen Mitteln zu begegnen, mag die von Max J. Friedländer als „empirische Perspektive“ bezeichnete Form der Raumdarstellung erwähnenswert sein, wie sie in der flämischen Malerei des 15. Jhdts. praktiziert wurde; man denke an Rogier van der Weyden und – als wohl großartigstes Beispiel – den „Genter Altar“ der Brüder van Eyck.

Die Vorliebe der Moderne für isometrische Körper – bzw. Raumdarstellungen (man denke etwa an van Doesburgs architektonische Entwürfe) speist sich zwar aus dem Bedürfnis, zentralperspektivische Raumillusionen zu vermeiden, ruft aber für uns, d.h. für Betrachter, die im konventionellen Wahrnehmen befangen sind, die umgekehrte Illusion hervor – nämlich die, daß die Linien auseinanderzustreben scheinen.

5) Dank der großen Brennweiten, mit denen damals nahezu alle photographischen Aufnahmen angefertigt wurden, findet in den auf ihnen basierenden Reproduktionen eine weniger starke illusionistische Verjüngung statt als in der direkten sinnlichen Anschauung. Ausnahmen jedoch in: Ausstellungskatalog „Die Axt hat geblüht...“ Europäische Konflikte der 30er Jahre in Erinnerung an die frühe Avantgarde. Düsseldorf 1987, S. 326 und S. 334.

6) Zur Geschichte des Wortes „Propaganda“: Im sprachlichen Rückgriff auf lat. propagare (= aufpfropfen, veredeln), einem Begriff aus dem Gartenbau, gründeten die Jesuiten im 16. Jhdt. ein Institut „de propaganda fide“ (= „zur Aufpfropfung, Veredelung des Glaubens“); kurz nach der Mitte des 19. Jhdts. findet sich das Wort im Sprachgebrauch der Anarchisten („Propaganda der Tat“), um bereits gegen Ende des Jahrhunderts im Sinne der kaufmännischen Kundenwerbung benutzt zu werden. Vgl.: Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Berlin/New York 1975, S. 567. Der Jesuitenschüler Goebbels hat dann eine intelligente und treffsichere Synthese aus Vatikan, Politik und Kommerz entwickelt.

7) Vgl. Friedrich Schiller, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie (Vorrede zu: Die Braut von Messina), in: Schillers Werke in fünf Bänden, Berlin/Weimar 1969, Bd. 5, S. 285 ff.; ferner: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1967, Bd. 15, S. 228 ff. und Bd. 16, S. 868 if.; ferner: Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt/M. 21967

8) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947. Wenn hier von subjektiv— oder massenhaft-intuitiven Erlebnisformen im Zusammenhang mit Metaphysik gesprochen wird, dann in Anspielung auf mystische oder gnostische Traditionen, deren Bandbreite von Individuellen (Gottes-) Erlebnissen bis hin zum Versuch reicht, das „Reich Gottes“ auf Erden zu errichten – ein Anspruch, von dem sich vor allem die aufständischen Bauern gegen Ende des Mittelalters leiten ließen.

9) Walter Benjamin, Brief an Max Rychner vom 7. März 1931, in: ders., Versuche über Brecht, op.cit., S. 148. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in der jüdischen Tradition vielleicht noch stärker als in der christlichen eine Zielorientiertheit anwesend ist, die sich aus der bislang uneingelösten Erwartung des Messias speist. In seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“, vermutlich 1939/40 verfaßt, löste Benjamin sein Geschichtsverständnis wieder aus der engen Verquickung mit sozialdemokratisch-marxistischen Fortschrittsvorstellungen, um auf eine von der Möglichkeit zur Diskontinuität geprägte Auffassung von historischer Zeit zu rekurrieren. Vgl.: Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders., llluminationen, Frankfurt/M. 1961, S. 268.

10) Zur Volksfront-Politik vgl. beispielsweise: Babette Gross, Willi Münzenberg – Eine politische Biographie, Stuttgart 1967. Es ist auffällig, daß Otto Freundlich, der wegen seiner gleichermaßen radikal-sozialrevolutionären Theorie wie seines zweifelsfrei metaphysischen Anspruchs im vorliegenden Essay mehrmals erwähnt wird, 1935 (wie Benjamin, wenn auch seit erheblich längerer Zeit als jener, im Pariser Exil) ebenfalls einen gutwillig-solidarischen Theorie-Ausflug in sozialdemokratisch-marxistische Gefilde unternahm, den er jedoch 1937 bereits – vermutlich unter dem Eindruck der Rolle, welche die Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg spielten – beendete. Für Benjamin dürfte erst der Hitler-Stalin-Pakt zur Rückbesinnung auf seine vorherigen Positionen geführt haben.

11) Von „faschistischer“ Architektur zu sprechen wäre ähnlich unberechtigt wie Richard Wagner wegen des sinnlichen Eindrucks, den seine Opern hinterlassen, als „Präfaschisten“ zu bezeichnen und sich eine eingehendere Beschäftigung mit seiner Kompositionstechnik zu ersparen – eine Versimpelung, wie Georg Luk6cs sie sich zuschulden kommen ließ, als er eine Linie des Irrationalismus von Nietzsche bis Hitler zog und daraus eine geradezu zwangsläufige historische Folgerichtigkeit zu konstruieren unternahm. Adornos bissiger Kommentar zu Lukács´ Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ (1952) lautete denn auch, es könne sich nur um Lukács´ eigene gehandelt haben.

12) Auch das läßt sich an den Säulen der griechischen Architektur bereits erkennen: Als die zuvor gebräuchlichen Holzpfosten allmählich durch steinerne bzw. marmorne Stützen und Träger ersetzt wurden, erhielten die neuen Materialien Blattwerk-Applikationen. Um die Jahrhundertwende fand diese bis heute verbreitete Praxis in dem Wiener Architekten Adolf Loos ihren polemischsten Kritikter: Vgl. Adolf Loos, Ins Leere gesprochen – 1897-1900, Paris/Zürich 1921

13) Walter Benjamin, Der Autor als Produzent (Ansprache im Institut zum Studium des Faschismus in Paris am 27. April 1934). In: ders., Versuche über Brecht, op.cit. S. 98, ferner: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36) in: ders., Illuminationen, op.cit., 5. 148 ff.

14) Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: ders., Kritische Theorie der Gesellschaft, o.O. 1968, Bd. 3, S. 118 ff. – Daß die hier vertretenen Ansichten, wiewohl mittlerweile häufig zu lesen, noch nicht lange ins Bewußtsein der kritischen Forschung gedrungen sind, wird beispielsweise an einem hochinstruktiven Aufsatz von Erika Billeter ersichtlich, der, publiziert im Ausstellungskatalog „Die Dreißiger Jahre – Schauplatz Deutschland“ (München 1977), den widersinnigen Titel trug: „Die angewandte Kunst: Sachlichkeit trotz Diktatur“. Übrigens hat der Hang zur Mythologisierung stets noch zugenommen, und er bewegt sich nicht nur im Gleichschritt mit der weltweiten Technisierung, sondern eilt ihr – man denke an ein Entwicklungsland wie Frankreich – mit Vorliebe sogar voraus.

15) Auf Wilhelm Kreis sei wegen seiner vielbeachteten Bauten anläßlich der „GesoLei“ in Dresden bzw. Düsseldorf (1929) und seiner späteren Nazi-Prachtstücke besonders hingewiesen. Vgl. Ausstellungskatalog „Die  Axt hat geblüht...“, op.cit.; ferner: Joachim Petsch, Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich, München 1976; ferner: Reinhard Merker. Die bildenden Künste im Nationalsozialismus, Köln 1983

16) Vgl. Anm. 14)

17) Hugo Ball, Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919

18) Spätestens noch Balls Tod (1927) dürften viele seiner Arbeiten endgültig unter Verschluß genommen oder sogar vernichtet worden sein; vgl. Emmy Ball-Hennings, Vorwort, in: Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946

19) Einige kurzgefaßte Hinweise auf Vertreter dieser Tradition wie z.B. Bakunin, Gustav Landauer, Ludwig Rubiner, Theodor Lessing, Ret Marut (= B. Traven) und einige Dadaisten, vor allem Raoul Hausmann, sind enthalten in: Uli Bohnen,  Otto Freundlich – Schriften, op.cit.

20) Als Zitat unidentifizierter Herkunft überliefert durch den aus Prag gebürtigen Künstler Augustin Tschinkel (1 905—1985)

21) Vgl. Werner Durth, Die getarnte Moderne – Planung und Technik im Dritten Reich, in: Ausstellungskatalog „Die Axt hat geblüht...“ op.cit., S. 358 ff.; auf das bolschewistische Russland bezogen, hat der Kölner Künstler Franz W. Seiwert (1894-1933) frühzeitig den dortigen „Maschinenkult“ als ein Phänomen identifiziert, das aus dem Mangel an technischem Instrumentarium erwuchs. Vgl. Ausstellungskatalog „Franz W. Seiwert – Leben und Werk“, Köln 1978; ferner: H.U. Bohnen, Das Gesetz der Welt ist die Änderung der Welt – Die rheinische Gruppe progressiver Künstler (1918-1933), Berlin 1976

 

22) Feiningers Titelholzschnitt zum „Bauhaus-Manifest“ (1919) hieß beispielsweise „Die Kathedrale des Sozialismus“; „Die Gemeinschaft“ war ein Buchtitel von Ludwig Rubiner (Potsdam 1919); „Der Bau“ ist 1917 als Aufsatz von Otto Freundlich erschienen; der Titel dürfte jedoch häufiger anzutreffen gewesen sein. Derartige Titel stehen zwischen expressionistischer Herkunft und dem sich anmeldenden konstruktivistischen Anspruch.

 

23) Vgl. u.o. Ausstellungskatalog „Arbeitsrat für Kunst 1918-1921“, Berlin 1980; ferner: Kasimir Malevich, Die gegenstandslose Welt (= Bd. 11 der „Bauhausbücher“), München 1927

 

24) James Broh, Der Rote Faschismus, in: Die Aktion, 13Jg., Berlin (April) 1923, Sp. 201 ff.; zu Gustav Landauer vgl.: Ulrich Linse, Gustav Landauer und die Revolutionszeit, Berlin 1974. Franz Pfemfert war der Herausgeber der „Aktion“, die sich seit Beginn ihres Erscheinens 1911 von einem der wichtigsten Organe des literarischen Expressionismus zur maßgeblichen Plattform des linken Radikalismus zwischen den Kriegen entwickelte. Otto Rühle, der, als sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter, bereits 1915 gegen seine Partei die Verweigerung von Kriegskrediten gefordert hatte, und, als brillanter Theoretiker und Agitator, zu einer Schlüsselfigur des Linksradikalismus wurde, schrieb 1939 im mexikanischen Exil den Text „Brauner und Roter Faschismus“ – erstveröffentlicht in: Otto Rühle – Schriften, Reinbek b. Hamburg, 1971

 

25) Otto Freundlich – Schriften op.cit.

26) Wie eine Kritik z.B. am „Bauhaus“ aussehen kann, die in diesem Widerspruch befangen bleibt, wurde vor zwei Jahrzehnten demonstriert von: Heide Berndt, Alfred Lorenzer, Klaus Horn, Architektur als Ideologie, Frankfurt/M. 1968

 

 

In: Exploration, Galerie Hafemann, Wiesbadem 1989