New Pott - Neue Heimat im Revier?
Mischa Kuball, 2011
Wenn ich an das Ruhrgebiet denke, sehe ich deutlich vor Augen, wie sich meine Bilder davon gewandelt haben: Aus den rauchenden Schornsteinen und dem nächtlichen Feuer beim Abstich ist längst eine neue Zeit angebrochen, eine Zeit, die auch eine neue Heimat herausbildet für Menschen aus über 180 Nationen – das ist eine Tatsache; aber wie fühlt sie sich an? Wie leben denn diese vielen Menschen, Familien in der neuen Fremde, die ihr Zuhause geworden ist, und: Wie haben sich diese Lebensräume verändert?
Dies wollte ich untersuchen – im Rahmen einer sehr persönlichen Forschungsreise in den Pott.
Bei der Entwicklung der Idee kam mir meine Erfahrung aus São Paulo zugute, einer Megalopolis mit 25 Millionen Menschen. Dort besuchte ich im Kontext der 24. São Paulo Biennale 1998 72 Familien aus allen sozialen Strukturen und Bildungsschichten. Das komplexe Projekt „private light/public light“ wurde so zum „Deutschen Beitrag“ in der Metropole Brasiliens, ohne dass tatsächlich etwas aus Deutschland zu sehen war – der Künstler als Initiator und Moderator löste sich in der Stadt und in diesem Projekt völlig auf.
Mit dem partizipatorischen, prozessualen Ansatz sollte es möglich werden, die Bandbreite des öffentlichen Lebens in all seinen Facetten und der soziokulturellen Vielfältigkeit Brasiliens am Beispiel von privaten und teilweise sehr intimen Begegnungen abzubilden. Methodisch stand für mich die direkte Begegnung vor Ort mit den Menschen in ihren privaten Kontexten im Vordergrund, d. h. auch eine Begegnung mit ihrer unmittelbaren sozialen Struktur, die gerade in Brasilien Hintergründe einer elementaren Migrationskultur vermitteln konnten – nur konnte ich hier die aufwühlenden Erzählungen aus Europa, Asien, Nordafrika und dem Mato Grosso nicht wirklich sammeln und konservieren, da u. a. die Sprachen und Dialekte eine unüberwindliche Barriere darstellten. Aus heutiger Sicht ein herber Verlust!
Das 'private' wird 'öffentlich'
Daran anknüpfend erarbeitete ich auf Einladung der Ruhr.2010 das Projekt „New Pott“, das die soziale und historisch gewachsene Bandbreite der Ruhrregion einzufangen versucht – mit der besonderen Bedeutung der verschiedensten ‚Migrationshintergründe‘ und individuellen sozialen Situationen. Ich traf mich mit 100 Personen und Familien aus allen beteiligten Kommunen der Ruhrregion zwischen Duisburg und Dortmund, Datteln und Witten, um Menschen kennenzulernen, die ihre neue Heimat im Revier gefunden haben. Mit all diesen Menschen habe ich über 18 Monate hinweg Gespräche geführt – jede Lebens- und eben auch Leidensgeschichte habe ich aufgezeichnet. Dabei habe ich unterschätzt, wie intensiv mich dies nachhaltig beschäftigen würde – es sind eben die bewegenden Geschichten dieser besonderen Region, die sich mir eingeschrieben haben. Aus den über 40 Stunden Videomaterial sind Auszüge in diesem Buch zusammengefasst und von Harald Welzer kommentiert. Sie zeigen das neue Bild, die neuen Bilder des Ruhrgebiets – und bilden die Basis einer multimediale Erzählung vom „New Pott“, in deren Vordergrund die Vielfalt steht, die Unterschiedlichkeit, aber auch die Komplexität von Fragestellungen rund um das Thema Migration in dieser Region. Dabei entsteht auch eine neue Kartografie der Ruhrregion: ‚Irak’ liegt jetzt linksrheinisch und ‚Portugal’ ist das Tor zum Sauerland!
New Pott, Neue Heimat, New Mapping
100 Einwanderer und deren Familien haben mir viel Zeit geschenkt, Zeit für Gespräche und interessante Begegnungen. Und wie vor zwölf Jahren in São Paulo wollte ich auch hier etwas zurückgeben, ein Zeichen, eine Spur, eine Erinnerung, ein symbolisches Tauschobjekt. Mein Geschenk an meine Gesprächspartner war eine speziell entworfene Lampe, ein Licht für den privaten Lebensraum.
Diese 100 symbolischen ‚Lichter‘ verbinden sich also mit der Erzählung einer Reise, einer Flucht, eines Ankommens, eines Verweilens – Wort und Licht bilden für einen Moment eine Einheit. Die privaten Orte werden zur Bühne und Plattform für Begegnung, Aktion und Austausch und bilden daraus ein Archiv des „New Pott“.
Viele Wege führen in den Pott.
Yu-Jin Lee aus Südkorea ist eine der ersten, die ich Sommer 2009 besuchen durfte. Treffpunkt ist ihr 16 Quadratmeter kleines Studentenappartement im Bochumer Süden, in unmittelbarer Nähe der Ruhr-Universität.
Die Fotografie, die während meines Besuches dort entstand, zeigt die Studentin mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem unbezogenen Bett sitzend. Hinter ihr sind fünf übereinander angeordnete Regalbretter an der Wand angebracht. Sie sind völlig leer ebenso wie der Schreibtisch, der am linken Bildrand zu erahnen ist. Durch das gekippte Fenster ist zu erkennen, dass es sich um eine Jahreszeit handelt, in der die Bäume noch Grün tragen.
Yu-Jin hat eine schlüssige Erklärung dafür, dass sie in einem solch spartanisch eingerichteten Zimmer sitzt. Sie ist gerade erst umgezogen und ihre neuen Mitbewohnerinnen möchten das Interview nicht so gern in ihrer Wohnung stattfinden lassen – man verneint ‚Herrenbesuch‘.
Sie erzählt, warum sie sich dazu entschlossen hat, nach Deutschland zu kommen, über ihre Kontakte zu anderen Studenten und die Schwierigkeiten, mit denen sich Immigranten in Deutschland auseinandersetzen müssen. Eine große Hürde waren und bleiben für sie im Besonderen die Behördengänge.
Es ist keine Einzelsituation, die hier beschrieben wird, man muss annehmen, dass dies der Alltag ist für viele Menschen die nach Deutschland kommen, es kommt jedoch in den vielen direkten Gesprächen die unmittelbar persönliche Betroffenheit dazu. Viele kommen, wie auch Yu-Jin Lee, wegen der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. „Made in Germany“, offensichtlich eine Erfolgsmarke außerhalb Deutschlands.
Die Fotografie von Yu-Jin erinnert mich an diese ‚Betroffenheit‘. Der französische Philosoph Roland Barthes entwickelte in seinem Hauptwerk „Die helle Kammer“ eine Strategie, die sich Fotografien auf der Grundlage von persönlichen Gefühlen zu nähern versucht. Nicht vom Allgemeinen und Universellen her möchte er betrachten, sondern ganz im Gegenteil vom Detail ausgehend. Von dem, was ihn plötzlich und spontan anrührt und was er das „Punctum“ nennt. Dies kann ein Verband am Finger sein, die schlechten Zähne eines kleinen Jungen, ein zu weit geschnürter Gürtel oder die Art und Weise, wie jemand die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Das eigentlich Vordergründige der Fotografie, wovon spricht sie und wer ist zu sehen? Warum positionieren sich die Protagonisten der Fotografien in dieser bestimmten Weise? Was sagt es über unsere Kultur? All dies sind wichtige Überlegungen, die sich bei einer ausführlichen Betrachtung ergeben.
Das „Punctum“ aber, so Barthes, springt den Betrachter förmlich an und löst eine kleine Erschütterung aus. „Das Photo rührt mich an, wenn ich es aus seinem üblichen Blabla entferne: ‚Technik‘, ‚Realität‘, ‚Reportage‘, ‚Kunst‘ und so weiter: nichts sagen, die Augen schließen, die Details allein ins affektive Bewusstsein aufsteigen lassen.“
Bei Yu-Jin könnte dies die Art und Weise sein, wie sie auf ihrem Bett sitzt oder die leeren Regalböden im Hintergrund. Sie könnten den einen oder anderen Betrachter an seine eigene Situation im Umbruch erinnern.
Meine künstlerische Herangehensweise will uns auf die Spur dieser Details bringen, indem die Personen aus den Bildern für den Augenblick der Aufnahme entfernt werden. Das Ausblenden ähnelt einem Augenzwinkern – und der Blick wandelt wie bei einem Vexierbild oder einem Suchspiel hin und her, zwischen einer Aufnahme, auf der eine Familie in ihrem persönlichen Umfeld zu sehen ist und einer identischen Szene ohne die Personen.
Es wird zu einer individuellen Angelegenheit, sich vom eigenen „Punctum“ anspringen zu lassen und so das Gewöhnliche sprechen zu lassen, welches das Leben aller ausmacht. Das Gewöhnliche ist dabei gleichzeitig in der Lage, dazu Aussagen zu treffen. Das Projekt „New Pott“ will zwar auch über Globalisierung und Migration nachdenken – jeder Lebenslauf ist einzigartig –, spricht aber gleichzeitig auch von der Attraktivität und den unterschiedlichen Facetten des sogenannten Gewöhnlichen, des ‚Ge-Wohnten‘.
100 Familien schenkten mir und dieser Idee das Vertrauen und öffneten ihre Türen. Was wird in ‚meinem‘ Bild lesbar sein? Wie verhalte ich mich selbst im Bewusstsein der eigenen Identität und Geschichte? Und vor allem: Was davon wird im Anschluss ‚sichtbar‘ werden?
Dies sind einige der Fragen, die sich sicherlich so oder ähnlich jedem Porträtierten stellen mussten. Ich selbst kann erst jetzt auch anhand der vorliegenden Dokumentation und mit der nötigen Distanz zu den Besuchen diese Fragen deutlicher erkennen!
Unsere Gespräche folgten einer Dynamik, die im Wesen des Dialogs liegt. Das spontane Reden und Erinnern, sowie die Abhängigkeit der Wechselreden voneinander erzeugen neue (Sprech-)Situationen. So scheint es, als ob jede Reflexion über das Gegebene und das Reden über die eigene Vergangenheit Bezüge aufnimmt und dabei gleichzeitig neue Erkenntnisse hervorbringt – auch für die Gesprächspartner selbst! Es gab eben kein festes ‚Fragekonzept‘, keine ‚wissenschaftliche‘ Matrix, die Fragen entstanden im gemeinsamen Sprechen und formen ein komplexes kollektives Gedächtnis im „New Pott“ aus.
Die persönlichen Erinnerungen und Geschichten überschneiden und unterscheiden sich gleichzeitig.
Die weiß leuchtenden Glaskugeln der Stehlampen, die bei den Familien verbleiben, tragen nicht zufällig die Inschrift „lux venit in mundum et dilexerunt homines magis tenebras quam lucem.“ – „Das Licht kam in die Welt, aber die Menschen liebten die Dunkelheit mehr als das Licht." Damit verbleibt vielleicht auch ein Funke genau jener Idee, die wir mit der Aufklärung und dem Beginn der Moderne verbinden, bei 100 Familien des neuen, modernen Ruhrgebiets.