nolde/kritik/documenta
2022
Emil Nolde (1867-1956) ist einer der bekanntesten Künstler der europäischen Avantgarde. Seine heutige Wahrnehmung ist geprägt von historischer Mythenbildung und deren Dekonstruktion. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben er selbst und die zeitgenössische Kunstgeschichtsschreibung das Bild des verfemten Künstlers vorangetrieben. Die Forschung der letzten Jahre hat Nolde als Antisemiten und seine Versuche, zu einem der bedeutendsten nationalsozialistischen Künstler aufzusteigen, wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Der Düsseldorfer Konzeptkünstler Mischa Kuball (*1959) hat sich, unterstützt von der Nolde Stiftung Seebüll, auf die Spur dieser ambivalenten Figur begeben. Erste Ergebnisse waren im Winter 2020/2021 in der Ausstellung Emil Nolde - eine kritische Annäherung von Mischa Kuball in der Sammlung Draiflessen in Mettingen zu sehen. Die Schau entstand in Zusammenarbeit mit dem documenta archiv.
In Kassel wird Kuball Ende 2022 die Spurensuche in modifizierter Form fortsetzen: Im Mittelpunkt steht der dreifache documenta-Künstler Emil Nolde, seine Malerei, sein Zugang zu Artefakten kolonialer Provenienz und seine öffentliche Rezeption als gefeierter Vertreter der expressionistischen Malerei. Aus heutiger Sicht erkundet die Ausstellung die Verschränkungen von Werk und Biografie und fragt nach den Widersprüchen der Moderne, die in Noldes künstlerischer Figur exemplarisch aufeinanderprallen. Kuballs Arbeit eröffnet Diskursräume, die über die Einzelfigur Nolde hinausgehen und zu einer spannenden Neubetrachtung nicht nur der Person Noldes, sondern auch der Beziehungen zwischen Kunst und Politik einladen.
Der Verlauf der Ausstellung nähert sich Nolde in mehrfacher Hinsicht: Es geht um An- und Abwesenheit im Kunst- und Ausstellungsbetrieb, um seine anhaltende Popularität, um die Entfernung seiner als "entartet" geltenden Werke aus den öffentlichen Museen während der NS-Zeit und um den nach 1945 entstandenen Mythos der "Ungemalten Bilder" - Aquarelle, die Nolde während des Zweiten Weltkriegs in vermeintlicher Isolation schuf. In diesem Zusammenhang sind die ersten drei documenta-Ausstellungen von 1955, 1959 und 1964 von zentraler Bedeutung. Die damals gezeigten Werke, von denen einige nun nach Kassel zurückkehren, sind der Ausgangspunkt für Kuballs Projekt. Insbesondere die Präsentation der "ungemalten Bilder" auf der dritten documenta trug maßgeblich zur Mythenbildung um den "verfemten" Maler bei. Mischa Kuball zeichnet Noldes Arbeits- und Lebensumfeld in Seebüll, dem heutigen Sitz der Stiftung, in filmischen Schwarz-Weiß-Projektionen nach, die den Blick auf die Originale nachhaltig verändern.
Ausgehend von der Idee des Archivs spürt Kuball in filmischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen dem Maler in Seebüll, seinem ehemaligen Arbeits- und Lebensraum, und dem heutigen Sitz der Stiftung nach. Eine ergänzende Recherche zu den Mechanismen des Erinnerns entlang der Tafeln von Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas vertieft diesen archivarischen Ansatz.
Das Projekt realisiert eine kritische Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen und wirkungsästhetischen Fragen, die über Nolde hinaus relevant sind.
Begleitend zur Ausstellung in Kassel findet ein Programm mit Diskussionsrunden, Vorträgen und Workshops statt.
Ein Katalogbuch (in deutscher und englischer Fassung) ist im Sommer 2022 erschienen. Es versammelt philosophische, philologische, historische und kunsthistorische Beiträge, herausgegeben von dcv Berlin.
Werke
Emil Nolde
- Zwei Frauen mit Kind, 1930er–1950er-Jahre
- Gruppe mit Kindern, 1930er–1950er-Jahre
- Buckeliger Alter, 1930er–1950er-Jahre
- Zwei alte Männer, 1930er–1950er-Jahre
- In der Garderobe, 1930er–1950er-Jahre
- Groteskes Paar (sich umarmend), 1930er–1950er-Jahre
- Zwei groteske alte Männer und Fledermaus („Nächtliche Gestalten“), 1930er–1950er-Jahre
- Spanierin, 1930er–1950er-Jahre
- Zwei Damen, 1930er–1950er-Jahre
- Zwei Frauen vor blauem Himmel, 1930er–1950er-Jahre
- Zwei Menschen, 1930er–1950er-Jahre
- Im Theater, 1930er–1950er-Jahre
- Das junge Mädchen, 1930er–1950er-Jahre
- Seltsame Dame, 1930er–1950er-Jahre
- Drei Frauen (Wartende junge Frau), 1930er-1950er Jahre
- Frau und zwei Männer – „Anklage“, 1930er–1950er-Jahre
- „Vergebung“, 1930er–1950er-Jahre
- Meer mit gelber Sonne, 1930er–1950er-Jahre
- Hochgebirge, 1930er–1950er-Jahre
- Grablegung, 1915
- Herbstwolken, Friesland, 1929
- Blumen und Wolken, 1938
- Familie, 1931
- Der Herrscher, 1914
- Anbetung, 1922
- Hockende Figur (bewegliche Arme), 19. Jahrhundert
- Japanerin in blauem Kimono, o. J.
- Wächterfigur, 1200−1450 n. Chr.?
- Löwenhund, Meji-Zeit (1868–1912)
- Figur des Unsterblichen Liu Hai mit doppeltem Flaschenkürbis in erhobener Hand, o. J.
Mischa Kuball
- making of Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- ethnographica_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- ethnographica_lumetri_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- unpainted_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- ct_scan_video_ethnographica_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- ct_scan_ethnographica_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- storage_room_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- lumetri_scope_Nolde/Kritik/Kuball I−VI, 2020
- scan_room_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- research_desk_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- research_desk_nolde/kritik/documenta, 2022
- public_sculpture_Nolde/Kritik/Kuball, 2020
- making of Mnemosyne (after Aby Warburg), 2021
Aby Warburg
- Bilderatlas Mnemosyne (1, 3, 5, 6, 23A, 31, 32, 36, 37, 39, 45, 47, 55, 65, 72, 77, 78, 79), 1924-1929